Der Fall Sneijder
meiner Frau die Einzelheiten dieser Geschichte zu erzählen, zumal ich wusste, dass sie sich nicht dafür interessieren würde.
Anna ist holländischer Herkunft, genau wie mein Vater. Da sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht und ein ebenso geradliniger wie praktisch veranlagter Mensch ist, hat sie ganz selbstverständlich einen mächtigen Einfluss auf unsere Entscheidungen. Zudem brüstet sie sich damit, stets genau zu wissen, was das Richtige für uns ist, und lässt es einen bei jeder Gelegenheit spüren. Ihr autoritäres Verhalten hängt sicherlich auch mit ihrer Führungsposition bei Bell Canada zusammen. Dieses große Telekommunikationsunternehmen hat sie 2004 zur Leiterin des Spracherkennungslabors gemacht; die Stelle war deutlich lukrativer als der Posten, den sie zuvor in Frankreich bekleidet hat. Sie arbeitet auf dem Campus Bell in Montreal, in einem der neuen Gebäude, die das Unternehmen auf der Ile des Sœurs errichtet hat – ein reiches, florierendes Monaco am Ufer des Sankt-Lorenz-Stroms, gleich hinter der Champlain-Brücke. So belanglos diese topographischen Details im Augenblick auch scheinen mögen, sie werden zu gegebener Zeit noch ihre Bedeutung entfalten.
Ehrlich gesagt habe ich nie begriffen, welcher Tätigkeit meine Frau genau nachgeht, auch nicht, welche Aufgaben sie im Einzelnen zu erfüllen hat. Jedes Mal, wenn ich sie darauf anspreche, hält sie mir einen rätselhaften Vortrag, dem ich nur entnehmen kann – aber dafür lege ich meine Hand nicht ins Feuer –, dass am Ende einer asymptotischen Kurve schwer verständliche Begriffe aufeinander zustreben, ohne je einander zu berühren; Begriffe wie »reflexiver Wettbewerb« und »friktionelle Solidarität«. Wenn ich es daraufhin wage zu fragen, was sich hinter diesen Begriffsungetümen verbirgt und worin ihre Forschung im Bereich der Spracherkennung dennbesteht, wird Anna stets sehr ungehalten, weil ich so wenig von Technologie und von der Welt des Managements verstehe. Dann tadelt sie mich für meine archaische Beschränktheit, deretwegen ich wohl für immer aus der Welt der High Potentials ausgeschlossen bliebe.
Vermutlich werde ich nie herausfinden, was es mit dieser Welt der High Potentials auf sich hat, außer dass es dort vermutlich nur so wimmelt von Topmanagern und Corporate Leadern, die die Spieltheorie und die Kalkulation von Kuppelprodukten praktizieren. Ich vermute, Anna bereitet es sogar ein gewisses Vergnügen, mich spüren zu lassen, dass wir in beruflicher Hinsicht auf völlig unterschiedlichen Planeten leben. Sie hält sich für ein Mitglied der postmodernen Aristokratie, während ich mit meinen äußerst begrenzten Kapazitäten am untersten Rand der Unterschicht herumkrebse. In mancherlei Hinsicht hat Anna sogar recht. Wir leben in zwei unvereinbaren Welten. Als sie mich an jenem Abend des 3. Januar vor dem Bildschirm ertappte, während sich draußen der Schnee wie eine dämpfende Decke über die Geräusche der Stadt legte, fühlte ich mich außer Stande, die Ereignisse auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Und erst recht nicht, dass sich weiter im Süden Tausende hochsensibler Vögel mit purpurfarbenen Schulterklappen in den ersten Stunden des neuen Jahres verabredet hatten, um an einem Ort zu sterben, der bis dahin kaum auf der Landkarte existiert hatte.
Ich heiße Paul Sneijder und bin gerade 60 Jahre alt geworden. Mein Vater, Bastiaan, wurde in Scheveningen geboren, einem Stadtteil von Den Haag, direkt an der Nordsee. Seit Generationen bauen die Sneijders hübsche Kanalboote mitstählernem Rumpf. Dank ihres geringen Tiefgangs kann man damit problemlos die Brücken der zahllosen holländischen Wasserkanäle unterqueren. Die Sneijder Fabriek liegt am Hafen, gleich neben anderen Werkstätten. In diesem kleinen Unternehmen waren immer nur Familienmitglieder angestellt. Die vier Brüder meines Vaters blieben auf der Werft und hielten an der Metallverarbeitung und der Familientradition fest, während mein Vater als Einziger aus Scheveningen fortging. Das Hantieren mit den Lötkolben erschien ihm offenbar wenig verlockend, und so verließ er als Volljähriger die Werkstatt und ging in den Süden. Nachdem er mehrfach in Frankreich umhergezogen war, ließ er sich am Ende in Toulouse nieder – wie ein Schlittenhund, der sich vor dem Hinlegen ein paar Mal um die eigene Achse dreht. Dort lernte er gründlich Französisch, eine Sprache, die er bis zu seinem Tod mit einem so starken batavischen Akzent sprach, dass man
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