Der falsche Zeuge
Bescheid.«
Die Uhr im Turm der Domkirche schlägt vier.
Ich stelle wieder das Radio an. Bekomme endlich eine Erklärung, warum in der Innenstadt alles in polizeilicher Hand ist.
Der Nachrichtengeier kriegt vor Aufregung kaum Luft. Es gelingt ihm trotzdem, die Zuhörer über die wichtigsten Details zu informieren:
Am Nachmittag seien auf der Besuchertribüne des Althings Krawalle ausgebrochen. Auf der Tribüne, die hoch über dem Plenarsaal liegt, habe eine gewalttätige Demonstration stattgefunden. Die Wachmänner des Parlaments hätten ein starkes Polizeiaufgebot anfordern müssen, das wieder für Ruhe gesorgt habe.
Im Handgemenge sei eine junge Frau über die Brüstung der Tribüne einige Meter tief ins Parlament gefallen. Sie läge auf der Intensivstation der Uniklinik Landspitali, aber von dort seien keine Informationen über ihren Zustand zu bekommen.
Einige der Unruhestifter seien aber bereits im Althing festgenommen und ins Stadtgefängnis der Reykjaviker Polizei überführt worden.
2
Ich erwarte einen Brief, der mit dem Überlandbus aus dem Westen kommt. Also mache ich auf dem Weg nach Hause in mein großes Reihenhaus, wo meine Anwaltskanzlei im Erdgeschoss liegt, einen Schlenker am Busbahnhof vorbei.
Habe heute Morgen versprochen, einer alten Freundin einen Gefallen zu tun.
Gréta. Ich habe sie im Gymnasium kennen gelernt. Kannte sie gut.
Hmmhmmm.
Verdammt gut.
Sie rief mich heute in aller Frühe an und erläuterte mir ihr Problem, das mit einer Wohnung zusammenhängt, die sie im Breidholt vermietet.
Gestern Abend hätten andere Bewohner des Hauses bis in die Nacht hinein bei ihr angerufen und sich wegen des andauernden Lärms in der Wohnung beschwert. Die Musik hinderte die Leute in den angrenzenden Schlafzimmern daran einzuschlafen, und es käme niemand an die Tür, wenn geklingelt würde. Oder an die Tür geschlagen. Der Mieter ginge auch nicht ans Telefon.
Gréta ist auf den Westfjorden an ihre Arbeit gebunden und hat daher keine Gelegenheit, in den nächsten Tagen selber nach Reykjavik zu kommen. Deswegen rief sie den Rettungsdienst an.
Mich.
Den Schlüssel zur Wohnung hatte sie bereits in einen Umschlag gesteckt und zum Bus gebracht, der in aller Herrgottsfrühe nach Reykjavik losfuhr.
Sie vertraute darauf, dass ich für sie in den Breidholt fahren und die Sache regeln würde. Aus alter Freundschaft.
Weshalb sonst?
Im Büro wartet eine ganze Menge Handarbeit auf mich.
Ich muss Briefe, Anklagen und Forderungen formulieren plus noch mehr Anträge auf Pfändung. Und per Internetbanking überprüfen, welche Zahlungen heute auf meine Konten überwiesen wurden, um dann weitere Schritte zu planen, wie ich diesen Halunken, die sich um die vereinbarte Rate gedrückt haben, das Geld aus dem Ärmel leiern kann. Uff!
Manchmal bin ich diese ganze verdammte Bürokratie leid, die mit der Arbeit verbunden ist. Dann habe ich oft Lust, jemanden fürs Büro anzuheuern. Einen Privatsekretär anzustellen, der fleißig wie eine Biene ist. Oder einen jungen Juristen, der auch anständig für sein Gehalt arbeitet. Irgendeinen rührigen Helfer, der mir einen Teil der überbordenden Schreibtischarbeit abnimmt.
Vielleicht ist es an der Zeit, mir endlich diesen Traum zu erfüllen?
Als sich der irre Ingi meldet, ist meine gute Laune schlagartig wieder da.
»Ich habe den Jeep gefunden«, berichtet er. »Aber angeblich hat hier niemand den Schlüssel zum Auto.«
»Ruf beim Abschleppdienst an. Die sollen einen Kranwagen schicken und das Auto einkassieren.«
»Mit Vergnügen.«
Eins zu null für mich!
Ich schufte weiter, traktiere die Tastatur und das Telefon, bis die Fernsehnachrichten anfangen. Da lasse ich alles stehen und liegen.
Die Frau, die von der Tribüne gefallen ist, ist gestorben. Sie hieß Salvör und arbeitete als Journalistin beim staatlichen Rundfunk. Einunddreißig Jahre alt. Unverheiratet.
Aber sie hatte ein Kind. Ein neunjähriges Mädchen.
In den Nachrichten geht es vor allem um die Geschehnisse im Althing. Es wird berichtet, dass die Besuchertribüne wegen der vielen Zuhörer überfüllt war, als die Diskussion begann. Nichts wies aber darauf hin, dass heimlich eine illegale Demonstration vorbereitet worden war.
Der Abgeordnete der Opposition, der laut Tagesordnung der erste Redner war, kritisierte die Justizministerin scharf für ihre unverantwortlichen Äußerungen, die sie in letzter Zeit über die Belange der Einwanderer hatte verlauten lassen. Ihre Stellungnahmen würden
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