Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
Kapitel 1
Ich komme mir vor wie die letzte Schwindlerin.
Alice Auclair, Mei Zhang und ich stehen auf dem düsteren, engen Flur eines Mietshauses, in dem es nach gekochtem Rindfleisch und Kohl stinkt. Wir tragen schwarze Wollumhänge über steifen schwarzen Kleidern aus Bombasin, dazu schwarze Absatzstiefel, die unter den bodenlangen Röcken hervorschauen. Unsere Haare sind, unter den Kapuzen verborgen, schlicht und ordentlich zurückgesteckt. Es ist die Tracht der Schwesternschaft. Auch wenn bis jetzt keine von uns ein vollwertiges Mitglied des Ordens ist, sind wir hier, um die Wohltätigkeitsarbeit der Schwestern zu verrichten. Wir haben Körbe voller Brot dabei, gebacken in der Klosterküche, und Gemüse aus dem Keller des Klosters. Unser Blick ist stets gesenkt, die Stimme gedämpft.
Niemals darf auch nur der leiseste Verdacht aufkommen, was wir wirklich sind.
Alice klopft an die Tür. Von ihren kleinen, muschelförmigen Ohren schwingen feine Ohrringe aus Onyx. Sogar auf einer Mission wie der Armenspeisung schafft sie es, den gesellschaftlichen Status ihrer Familie zur Schau zu stellen. Ihr Stolz wird ihr eines Tage noch zum Verhängnis werden.
Der Gedanke gefällt mir beinah.
Die Tür geht auf, und vor uns steht Mrs Anderson, eine fünfundzwanzigjährige Witwe mit blondem Haar, eine Nuance heller als meines. Als sie uns hereinwinkt, ist ihr Gesichtsausdruck gehetzt wie immer. Im düsteren Novemberlicht flattern ihre Hände wie blasse Motten. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Schwestern.«
»Sie brauchen uns nicht zu danken. Es ist Teil unserer Mission, denen, die weniger vom Glück gesegnet sind, zu helfen«, sagt Alice, doch als sie die vollgestopfte Zweizimmerwohnung sieht, verzieht sie das Gesicht.
»Ich bin Ihnen trotzdem sehr dankbar.« Mrs Anderson nimmt meine Hand. Ihre Hände sind eisig. Obwohl ihr Mann bereits drei Monate tot ist, trägt sie nach wie vor den goldenen Ehering. »Mein Frank hat uns immer gut versorgt. Nie hat es uns an etwas gefehlt. Ich lebe nicht gerne von Almosen.«
»Natürlich nicht.« Unsicher lächle ich sie an. Angesichts ihrer Dankbarkeit habe ich ein noch schlechteres Gewissen wegen unserer Unaufrichtigkeit.
»Sie hatten eben großes Pech. Aber es werden auch für Sie bald wieder bessere Tage kommen«, versichert ihr Mei. Mrs Andersons Mann und ihr ältester Sohn sind dem Fieber erlegen, das die Stadt im August fest im Griff hatte, und nun muss Mrs Anderson selbst für ihre zwei verbleibenden Kinder aufkommen.
»Es ist nicht leicht, als Frau auf sich allein gestellt zu sein. Ich würde ja mehr im Laden arbeiten, wenn ich könnte.« Mrs Anderson stellt den Krug Milch in den Eisschrank. »Aber es wird jetzt immer schon so früh dunkel, und ich gehe im Dunkeln nicht gern allein nach Hause.«
»Es ist auch viel zu gefährlich, als Frau abends unterwegs zu sein.« Mei ist klein und stämmig; sie muss sich auf Zehenspitzen recken, als sie ein Glas Apfelkraut auf das Regalbrett mit dem eingemachten Gemüse stellt.
»Es gibt so viele Ausländer in diesem Stadtteil. Die meisten können noch nicht einmal richtig Englisch.« Alice’ Kapuze rutscht ihr vom Kopf, und das goldene, aus der blassen Stirn gekämmte Haar, das sich in hübschen Wellen eng an ihren Kopf schmiegt, kommt zum Vorschein. Sie sieht aus wie ein Engel, und doch ist sie eine richtige Ziege. »Wer weiß, was das für Leute sind!«
Mei wird rot. Ihre Eltern sind schon vor Meis Geburt aus Indochina hierhergekommen, aber sie sprechen zu Hause immer noch Chinesisch. Mei ist die einzige Chinesin im Kloster, was ihr ein bisschen unangenehm ist. Ich schätze, Alice weiß das; sie hat ein Talent dafür, in anderer Leute Wunden herumzustochern.
Die alte Cate Cahill hätte Alice zur Rede gestellt, aber Schwester Catherine hilft Mei bloß, Süßkartoffeln und Birnenkürbisse auszupacken und auf den abgenutzten Küchentisch zu legen. Als Angehörige der Schwesternschaft dürfen wir es uns nicht erlauben, wütend zu werden – jedenfalls nicht außerhalb der Klostermauern. In der Öffentlichkeit müssen wir ein Beispiel für tadelloses, damenhaftes Benehmen sein.
Diese Besuche sind mir zuwider.
Nicht, weil ich kein Mitgefühl mit den Armen hätte. Ich habe jede Menge Mitgefühl. Ich frage mich nur immer, was die Leute wohl von uns denken würden, wenn sie über uns Bescheid wüssten.
Die Schwesternschaft gibt vor, ein Orden zu sein, in dem Frauen ihr Leben der Wohltätigkeitsarbeit im Dienste des Herrn opfern. Wir
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