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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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in dem Jahr, als sein Vater hier heroben erkrankt war, nach Zell am See hätte fahren sollen. Der Arzt hatte ihm damals, es war das Jahr seiner Reifeprüfung gewesen, geraten, zu Fuß nach Bruck hinunter zu marschieren, zwei Stunden ungefähr, und von dort einen Zweispänner nach Zell am See zu nehmen. Aber dann hatte der Vater sich rasch von selber erholt.
    Der leichte Regen hatte aufgehört, überall glukkerte es, kleine Rinnsale auf dem abfallenden schotterigen Weg zur Kirche, von den Fichten und Tannen tropfte es, das Barometer versprach ein baldiges Hoch. Weit konnte er nicht gehen, die meisten Wege waren von Gras überwachsen, seine Schuhe waren dafür nicht geeignet. Er nahm die Briefe aus der Rocktasche, blieb stehen. Schon wieder einer vom Poldy Andrian; dabei beschäftigte ihn in Gedanken der letzte Brief noch, immer wieder. Wie sehr hatte er sich darüber gefreut, daß sein Freund, dieser seit ewigen Zeiten einsam lebende Mensch, jemanden gefunden hatte, eine Frau. Und gleichzeitig fühlte er sich jedes Mal unbehaglich, wenn er die mitgeschickte Fotografie anschaute. Dieses schöne Gesicht schien ihm vollkommen herzlos, kalt. Als Freund hatte er sich verpflichtet gefühlt, dem Poldy seinen Eindruck unverfälscht mitzuteilen. Und er hatte ihm vorgeschlagen, die Handschrift seiner Erwählten von einem Genfer Graphologen untersuchen zu lassen, den der Carl ihm einmal genannt und dessen Dienste er mittlerweile selber schon in Anspruch genommen hatte. Wie sehr hoffte er, seine Befürchtungen, seine Ahnungen würden sich als falsch erweisen.
    Über die ein wenig eingesunkenen, überwachsenen Steinstufen, die zu der Kirche hinaufführten, floß ein Bächlein, stärker als der dünne Strahl, der aus dem Eisenrohr des Brunnens in den hölzernen Trog rieselte. Er setzte sich auf die Bank an der Kirchenmauer. Ein Brief vom Carl, einer vom Richard Strauss, einer vom Professor Brecht. Brecht würde sich wahrscheinlich bedanken für den Geschenkkorb mit Lebensmitteln, den er ihm und den Seinen an seinem Abreisetag Anfang Juli hatte schicken lassen. Einen großen Schinken, Früchte, eine Flasche Wein. Und er hatte noch die ersten drei Bände seiner kürzlich erschienenen Werkausgabe dazugelegt. Die sehr beschränkten finanziellen Verhältnisse so vieler Freunde und Bekannten … Er dachte an die zweihundert Milliarden Papiermark auf seiner Münchner Bank, die nichts mehr wert waren. Vor ein paar Tagen hatte er in der Zeitung gelesen, die Inflation werde bald beendet sein, die Krone würde durch den Schilling ersetzt.
    Die Bänke waren immer noch feucht, aber er konnte ja auch im Gehen nachdenken. In der Früh hatte er wieder die Disposition durchgelesen, die Carl anhand ihrer Gespräche über den
Timon
aufgeschrieben hatte. Es blieb dabei, der erste Akt mußte auf einem Platz vor dem Haus des Timon beginnen. Von den Hauptfiguren hatte er eine genaue Vorstellung: der ein Doppelleben führende Timon, sein Sohn Chelidas, Lykon und Tryphon – jedoch wenn er vor der Schreibmappe saß, gelang es ihm nicht, einen straffen, überzeugenden Szenenablauf hinzuschreiben. Es schien ihm, es handle sich bloß um schablonenhafte Figuren, die in den Szenen zu keinem Leben, zu keinem wirklichen Miteinander kamen. Aber das hatten der Arthur Schnitzler und der Richard Beer-Hofmann ihm schon vor dreißig Jahren vorgeworfen. Wie oft hatte er die Dramen und Lustspiele Shakespeares und Goethes studiert, den Moliére, auch den Grillparzer. Eigentlich war es ihm von Anfang an problematisch, Figuren, menschliche Schicksale einer Theaterwirksamkeit anzupassen.

ER VERSPÜRTE ein zärtliches Sehnen, wie so oft, wenn er allein war.
Mein Kinderl, ich weiß, wie sehr Du Dir wünschst, daß ich den
Turm
endlich vollenden kann …
    Ungläubig hatte er den Kopf geschüttelt, als Carl ihn unlängst gefragt hatte, ob er nicht wieder ein Theaterstück schreiben könne wie den
Schwierigen
, ein Stück, das in Österreich und in der Gegenwart spiele. Daran, fiel ihm jetzt ein, hatte er sich schon erinnert, als er sich nach dem Frühstück zum Spazierengehen umzog. In einer der Taschen des Sportsakkos, das er sich während ihres Ausflugs in den Süden spontan in Chiavenna gekauft hatte – er hatte es in einer Auslage erblickt, anprobiert und mitgenommen –, fand er ein Stück vertrocknete Orangenschale. Carl hatte auf dem Markt in Soglio zwei Orangen gekauft, und als sie sie im Stehen verzehrten, war jener Satz über das »österreichische Stück« gefallen

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