Der Fluch der Abendröte. Roman
waren, war mir eiskalt. Ich blickte mich in den vertrauten Räumen um – und fühlte mich doch keinen Augenblick lang geborgen und geschützt. Nie wieder würde ich hier das Glück eines gemächlichen, gleichförmigen Alltags erleben. Nie wieder würde die Villa mein Rückzugsort sein. Das Licht, das durch das Wohnzimmerfenster fiel, erschien mir kalt, die Möbel unpersönlich, so als würde niemand mehr in den Räumen hier leben.
»Und nun?«, fragte ich, und weil ich die Antwort wusste – es blieb ja nichts anderes als die Flucht – fügte ich gleich die eigentliche Frage hinzu: »Wohin?«
Nathan hatte bis jetzt Auroras Hand gehalten. Sie sah etwas frischer aus, aber ihre Bewegungen wirkten mechanisch. Es schien, als sei sie aus einem langen Schlaf erwacht – oder vielmehr: aus tiefer Trance. Sie ließ Nathan los und trat auf mich zu, um mich fest an sich zu drücken.
»Am besten, wir gehen mit Cara«, murmelte sie – und ihre Stimme klang nicht mehr entschlossen und befehlend, sondern unsicher wie die eines Kindes, das froh ist, die großen Entscheidungen des Lebens den Erwachsenen überlassen zu können. Fortan würde sie beides sein – dieses Kind und die mächtige Nephila, und ich musste alles tun, damit dieser Widerspruch, diese stete Spannung irgendwie erträglich für sie sein würde.
»Aber …«
Auch Cara trat auf mich zu, und ihre beruhigende Art verfehlte auch diesmal ihre Wirkung nicht. »Du weißt, dass ich in den letzten Jahren in Paris gelebt habe«, sagte sie bestimmt. »Was ich euch nicht erzählt habe, ist, dass ich dort engen Kontakt mit einigen Wächtern gehalten habe. Früher habe ich solche meistens gemieden … ihr wisst … wegen meiner Herkunft … aber dieser Kreis in Paris hat mich mit offenen Armen aufgenommen. Auch ihnen geht es weniger um den Krieg mit den Schlangensöhnen als darum, im Verborgenen zu leben – und ihre Kinder zu erziehen. Es gibt dort eine eigene Schule für besonders begabte Nephilim. Aurora würde dort gut aufgehoben sein – und all die Hilfe und auch Stabilität bekommen, die sie jetzt braucht.«
Ich nickte. Egal wo, egal mit wem und egal wie wir leben würden – vor allem eine Frage zählte für mich: »Und werden wir dort sicher sein?«
Ich sah, wie Cara und Nathan sich einen zweifelnden Blick zuwarfen, doch bevor es einer von den beiden aussprechen sollte, sagte ich es selbst: »Nein, wir werden nicht sicher sein. Es waren zu viele, die Auroras Kräfte erlebt haben. Wenn sich erst herumspricht, dass sie noch lebt – dann kann die eine Seite unmöglich zulassen, dass die jeweils andere sich ihrer bemächtigt.«
»Aber in einer so großen Stadt wird es leichter sein, anonym zu bleiben und unterzutauchen«, meinte Cara. »Und wie gesagt: Meine Gefährten können bei Auroras Ausbildung helfen. So mächtig sie auch ist – es wird sehr lange dauern, bis sie wirklich mit all den Kräften, die in ihr wirken, umgehen kann.«
Ich senkte den Blick, wusste, dass das die beste Lösung war, und ich wusste auch, dass ich so bald keine eigenen Entscheidungen mehr über mein Leben würde fällen dürfen – vielleicht nie mehr.
»Dann kommen wir mit dir … nach Paris.«
»Und das so schnell wie möglich«, rief Nathan. »Wer weiß, was Caspar gerade treibt. Pack ein paar Sachen ein – und beeil dich.«
Bevor ich mit dem Packen beginnen konnte, musste ich mich dringend um Mia kümmern. Nachdem wir in die Villa zurückgekehrt waren, war sie in Auroras Zimmer gelaufen, hatte sich dort aufs Bett geflüchtet und sich zusammengerollt. Ihre Hände umschlangen ihre Knie so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Als ich mich zu ihr setzte, zuckte sie zusammen.
»Schscht …«, machte ich, »es kann dir nichts mehr passieren, es ist alles gut …« Ich sprach nur zögerlich und glaubte selbst nicht so recht an das, was ich sagte. Vor kriegswütigen Nephilim war sie wohl künftig sicher – sofern sie nicht in unserer Nähe blieb –, aber Lukas’ Tod würde sie noch lange betrauern, hin- und hergerissen zwischen echter Trauer und dem Entsetzen darüber, dass er selbst ihre und Auroras Entführung geplant hatte. »Mia … bitte hör mir zu! Mia, hast du noch Verwandte, die sich um dich kümmern können?«
Ihre Fingerknöchel wurden noch weißer. Ich wiederholte meine Frage mehrmals und glaubte schon, keine Antwort mehr zu bekommen, als sie endlich heiser ausstieß: »Meine Großeltern …«
Ich war erleichtert, doch sie fuhr nicht
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