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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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losgestürzt, knieten bereits neben ihr, als ich sie erreicht hatte, aber berührten sie nicht. Fast schien es, als hätten sie Angst davor. Während die anderen uns starr beobachteten, beugte ich mich dicht über ihr Gesicht, strich über ihre kalte Haut, aus der jede Farbe gewichen war. Kein Schaum trat mehr aus ihrem Mund, aber ihre Kiefer waren so fest aufeinandergepresst, dass sich die Muskeln unter ihrer Haut abzeichneten. Nun endlich wagte auch Cara sie zu berühren, tastete sorgfältig ihre Brust ab, warf dann Nathan einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Was ich jedoch verstand, waren die Worte, die Nathan mir im nächsten Augenblick zuraunte. Er sagte sie nicht laut, eigentlich formte er sie nur mit seinen Lippen, aber ich wusste, was er sagen wollte. »Vertrau mir!«
    Verwirrt blickte ich ihn an, wollte fragen, was er meinte, doch da hörte ich Schritte hinter uns. Die Heerscharen der Nephilim waren stehen geblieben, aber die Alten traten näher, schlossen einen Kreis um uns – Wächter wie Schlangensöhne. Ehe auch sie nah genug herangekommen waren, um Aurora zu untersuchen, stand Cara hastig auf und hob abwehrend die Hände. »Nicht!«, rief sie.
    Caras Gesicht verzog sich kummervoll, doch ihre Stimme hatte etwas Befehlendes. Sie klang fast so blechern wie die der Schlangensöhne. »Kommt nicht näher … es ist zu spät«, erklärte sie. »Sie hat ihre Kräfte aufgebraucht, diesen Krieg zu verhindern. Sie … sie hat es nicht geschafft …« Sie machte eine kurze Pause, senkte ihre Stimme und verkündete dann: »Sie ist tot.«

XIV.
    Ich konnte nicht schreien, nichts sagen, konnte Aurora auch nicht länger berühren – ich fühlte mich machtlos wie in einem Albtraum, wo eine furchterregende Situation auf die nächste folgt und man nicht eingreifen kann. Doch ausgerechnet das gab mir auch irgendwie Mut: dieses Gefühl, dass es eben nur ein Traum war, nicht die Wirklichkeit. Und diese Gewissheit wuchs, als Nathans Augen starr auf mich gerichtet blieben, sein Blick mich immer wieder beschwor: Vertrau mir!
    Ich vertraute ihm. Ich ließ weder die Worte, die Cara gesagt hatte, an mich heran, noch das Flüstern der Älteren. Bei den einen klang es etwas spöttisch, bei den anderen verwirrt. In jedem Fall traten sie nicht näher, wichen vielmehr zurück, weniger, weil sie Aurora scheuten, sondern weil sie ihren Feinden nicht zu nahe kommen wollten. Sie musterten meine Tochter auch nicht länger, sondern starrten sich gegenseitig an – zwar nicht mit diesem glühenden, lebendigen Hass, wie ich ihn vorher bei Nathan und Caspar gesehen hatte, jedoch mit einer tiefverwurzelten Abscheu. Schließlich wurden ihre Blicke nüchtern, kalt, distanziert. Die Farbe ihrer Augen schien sich zu verändern. Sowohl das Schwarz der Schlangensöhne als auch das Blau der Wächter schien grau zu werden, so dass ich unwillkürlich an Caspars Worte denken musste, wonach die Grenzen verlaufen, sich alles vermischt.
    Sie flüsterten miteinander, und ich glaubte herauszuhören, dass sie – nicht zuletzt um die jeweils eigenen Interessen zu schützen – einen Waffenstillstand zu schließen versuchten. Ihre Präsenz war für mich kaum erträglich. Es war, als würde sich ein harter, kalter Ring um mein Herz schließen, sich langsam zuziehen. Ich konnte kaum atmen, aber blickte weiterhin in Nathans Augen, und in denen las ich weiterhin den Befehl: Vertrau mir!
    Und immer noch vertraute ich ihm. Aurora war nicht tot. Doch nur, wenn die Alten dies glaubten, würden sie auf den Kampf verzichten.
    Dann war alles schneller ausgestanden, als ich erwartet hatte. Das Flüstern erstarb, die Alten erhoben ihre Hände und gaben Zeichen, und schließlich befahlen sie: »Geht! Es ist vorbei … für heute!«
    Kurz fürchtete ich, dass sich Widerstand regen würde. Doch all der Hass, die Aggression, der Hunger nach Gewalt, die vorhin die Luft förmlich aufgeladen hatten, kehrten nicht wieder. Immer noch wirkten diese Scharen verwirrt, fast ein wenig müde und orientierungslos. Wahrscheinlich würde Auroras Einfluss über sie nicht mehr lange anhalten, doch in diesem Moment waren sie noch ganz und gar ergriffen von der Macht dieser Friedensstifterin. Es war fast so, als hätten sie vergessen, warum sie hierhergekommen waren – und warum die anderen die Feinde waren. Das Einzige, was sie nicht vergessen hatten, war, ihren Anführern zu gehorchen.
    Innerhalb nur weniger Augenblicke zerstreuten sie sich. Ähnlich wie in der Sekunde, als sie

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