Der Fluch der Abendröte. Roman
Weise ansah, besorgt und liebevoll zugleich, überkam mich das Gefühl, es wäre doch so. Seine blauen Augen schienen förmlich zu glühen – was ein faszinierender Anblick war und zugleich auch ein wenig unheimlich. Immer noch konnte ich in diesen Augen versinken, als sähe ich sie zum ersten Mal – so wie damals, vor nun über zwölf Jahren im Mozarteum in Salzburg, als ich noch eine angehende Pianistin gewesen war und ihn für einen außergewöhnlichen Cellisten gehalten hatte. Das war er ja auch gewesen – aber eben nicht nur.
In meinem Bauch begann es zu kribbeln, doch es war nicht angenehm wie sonst immer und in diesem Augenblick auch kein Zeichen unserer immer noch starken körperlichen Anziehung; es war eher ein Zeichen von … Unbehagen.
»Du machst dir nicht wegen deiner Träume Sorgen … und auch nicht, dass man herausfinden könnte, wer ich wirklich bin«, stellte er fest. »Es geht um Aurora, nicht wahr?«
Es machte keinen Sinn, es zu leugnen. Wahrscheinlich war mir mein Unbehagen so deutlich anzusehen, dass man dafür keine Gedanken lesen musste. Und obwohl ich Nathan nicht erzählt hatte, was vor dem Einsturz der Tribüne passiert war, war ihm nicht entgangen, dass ich die letzte Woche Aurora häufig aufmerksam gemustert hatte. Ich nickte, presste eine Weile meine Lippen zusammen und stieß schließlich hervor: »Vielleicht … vielleicht haben wir einen Fehler gemacht.«
Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, hätte ich sie am liebsten wieder zurückgenommen. Es war eine gefährliche Grenze, über die ich mich wagte. Dahinter lauerten so viele Tabus, an die wir all die letzten Jahre nicht gerührt hatten. Wir wussten es, aber wir redeten nicht darüber: Weder dass Nathan kein normaler Mann, sondern ein Nephil, einer der Wächter, war … noch dass auch in Aurora dieses Erbe schlummerte, obwohl es sich nach einem Unfall vor fünf Jahren nicht mehr gezeigt hatte.
»Was war ein Fehler?«, fragte er betroffen. »Dass ich damals bei euch geblieben bin? Dass wir uns nicht getrennt haben, obwohl das für euch wahrscheinlich … sicherer gewesen wäre?«
Ich schüttelte entsetzt den Kopf. »Die letzten fünf Jahre waren die schönsten meines Lebens!«, rief ich und bereute prompt meine Worte. »All unsere Ängste haben sich als grundlos herausgestellt. Wir sind nie von Schlangensöhnen heimgesucht worden. Die Alten haben dich in Ruhe gelassen. Und Aurora … Aurora …«
Aurora ist ein normales Kind geblieben, wollte ich sagen, aber dessen war ich mir plötzlich nicht mehr sicher.
»Was war dann der Fehler?«, fragte Nathan, als ich nicht fortfuhr.
Wieder konnte ich die Antwort nur denken, aber nicht laut aussprechen.
Dass wir es als zu selbstverständlich hingenommen haben, dass Aurora ein Menschenkind geblieben ist. Dass wir uns zu wenig gewappnet haben für den Tag, an dem ihr Nephilim-Erbe doch wieder erwachen könnte.
»Vielleicht war es ein Fehler, dass wir Auroras … Talente einfach haben schlummern lassen«, sagte ich stattdessen – und wich Nathans Blick aus.
»Es war nicht unsere Entscheidung, dass sie sich damals, als sie aus dem Koma erwacht ist, an nichts mehr erinnern konnte.«
»Aber wir haben es viel zu schnell akzeptiert!«, rief ich. »Wir haben nie wieder darüber gesprochen, wie … erstaunlich das eigentlich war! Hast du mir nicht mal gesagt, dass Aurora – wenn sie sich tatsächlich zu einer Nephila wandelt – außergewöhnlich mächtig sein würde? Dass sie herausragen würde? Wie sonst hätte sie damals allein kraft ihres Willens Caspar von Kranichstein bezwingen können.«
Ich biss mir auf die Lippen. Seit Ewigkeiten hatte ich diesen Namen nicht mehr ausgesprochen – und eigentlich hatte ich mir geschworen, es nie wieder zu tun. Dass ich mich doch dazu hatte hinreißen lassen, fühlte sich an, als hätte ich in etwas Giftiges, Bitteres gebissen – ein Eindruck, der sich verstärkte, als ich sah, wie Nathan zusammenzuckte, wie er kurz ganz und gar von den Erinnerungen gefangenengenommen wurde – Erinnerungen an schreckliche Ereignisse. Caspar hatte mich entführt, und ich hatte mich damals ähnlich ausgeliefert und ohnmächtig gefühlt wie die Gefangene in meinem Traum. Am Ende war alles gut ausgegangen … aber nur dank Auroras Eingreifen.
Nun war es Nathan, der meinem Blick auswich. »Vielleicht ist es gar nicht so erstaunlich, dass ausgerechnet sie ihr Erbe zurückhalten kann. Gerade weil ihre Kräfte so besonders waren, sind die Mechanismen des
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