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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Woche waren ihre Spitzen nur leicht weiß überzogen gewesen – nun waren sie tiefweiß verschneit.
    Ich setzte mich an meinen Flügel, öffnete den Deckel und gab mich ganz dem Klavierspiel hin.
    Nachdem Nathan mich einst verlassen musste, hatte ich jahrelang nicht mehr gespielt, doch als er zurück in mein Leben gekehrt war, hatte er mich inständig gebeten, wieder damit anzufangen. Ich konnte zwar nicht an mein einstiges Niveau anknüpfen, doch gerade weil ich völlig frei von irgendwelchen Erwartungen oder Karriereabsichten spielte, ging ich bald wieder ganz und gar in der Liebe zur Musik auf – und kam auf die Idee, Unterricht zu geben.
    Anders als ich hatte Nathan all die Jahre sein Cello nicht wieder angefasst. So groß meine Sehnsucht auch war, mit ihm wieder Rachmaninow zu spielen wie einst – ich glaubte zu wissen, worin seine Verweigerung begründet war: Offenbar brachte er, indem er auf sein Cello verzichtete, ein Opfer, das größte Opfer, das ein leidenschaftlicher Cellist wie er überhaupt erbringen konnte – das war der Preis, den er zu zahlen bereit war, um mit Aurora und mir friedlich leben zu können. Er verwehrte sich seiner Berufung. Er war nicht bereit, gegen die Schlangensöhne zu kämpfen, und tat auch nichts, um Auroras Erbe zu wecken – im Gegenteil. Doch für diese Freiheit, die er sich nahm, gab er seine große Leidenschaft auf.
    Wenn ich auch nicht gleiches Opfer brachte – so verzichtete ich zumindest darauf, Rachmaninow zu spielen, und nahm mir stattdessen eine der Gnossiennes von Eric Satie vor. Erst als die melancholisch, leicht verwirrt und zugleich doch so sehnsuchtsvoll anmutende Musik verklungen war, fiel mir ein, dass auch Marian Orqual beim Schulfest dieses Stück hätte spielen sollen, aber stattdessen nur wahllos Töne aneinandergefügt hatte – immer wieder E , H und G . Nach dem Einsturz der Tribüne hatte ich nicht länger darüber nachgedacht, nun versuchte ich mir sein Verhalten zu erklären. Ich hob die rechte Hand und begann nun diese Töne zu spielen. E . H . G . Ein Zufall, dass er gerade diese wählte? Oder vielmehr eine Botschaft? Aber an wen gerichtet?
    Während ich spielte, sah ich Marians Gesicht ganz deutlich vor mir – seine helle Haut, sein dunkles Haar, seine großen Augen, deren Blick immer ein wenig verängstigt wirkte, manchmal regelrecht panisch. Unvermittelt und ohne Vorwarnung schwappte dieses Gefühl auf mich über. Ich konnte es mir nicht erklären, aber für wenige Sekunden fühlte ich mich in seiner Haut gefangen. Da war plötzlich so viel namenlose Angst … Hilflosigkeit … schreiende Wesen, die über mich herfielen … und ich war so wehrlos, so ohnmächtig … Es gab kein Entrinnen … die Lage war hoffnungslos.
    Gänsehaut überlief meine Arme, mein Magen verkrampfte sich wieder.
    Als plötzlich hinter mir die Türe aufgerissen wurde, zuckte ich zusammen, als hätte man mich bei etwas Verbotenem erwischt. Ich riss meine Hand zurück, fuhr herum – doch es war nur Aurora, die dort im Türrahmen stand.
    »Ist Nathan schon zurück?«, fragte ich und konnte das Zittern in meiner Stimme kaum unterdrücken.
    Sie schüttelte nur schweigend den Kopf.
    »Und Mia? Ist sie noch da?«
    Wieder schüttelte sie den Kopf, aber diesmal fügte sie hinzu: »Lukas hat sie vorhin abgeholt – er lässt dir ausrichten, dass er sich sehr auf heute Abend freut. Und jetzt sind die Orquals da … sie wollen mit dir sprechen.«
    Ich stand auf. Mein holpriger Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Ich nahm an, dass Frau Orqual mit mir über Marians seltsames Verhalten sprechen würde und es dafür eine einleuchtende Erklärung gab, und das Gefühl von Panik wich der Erleichterung.
    Aurora lief vor mir die Treppe nach unten, und während sie sich in ihr Kinderzimmer zurückzog, trat ich nach draußen.
    Eben hatte sie gesagt, dass die Orquals mit mir sprechen wollten, aber davon konnte natürlich keine Rede sein. Eine Unterhaltung war nur mit Frau Orqual möglich – während ihr Mann Samuel wie immer völlig reglos in seinem Rollstuhl saß, die Augen geschlossen und das Kinn tief in seiner Brust vergraben. Hastig hob Susanna seinen Hut von seinem Kopf und setzte ihn dann gleich wieder auf – eine Art Gruß andeutend, der mir, wie immer wenn sie das tat, übertrieben, ja nahezu lächerlich vorkam. Allerdings lag Susanna – wie sie mir einmal anvertraut hatte – viel daran, die Erinnerung an den Mann am Leben zu erhalten, der er einst gewesen war, ehe die

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