Der Fluch der Schriftrollen
Hauptfach und war ein begeisterter
Anhänger von Esperanto.
Ben schaute ihn an, als sähe
er ihn zum ersten Mal. Die heutige Diskussion befaßte sich mit der Dynamik der
Entwicklung der hebräischen Sprache. Dabei wurde erörtert, welche äußeren
Faktoren über die Jahrhunderte hinweg zum Sprachwandel beigetragen hatten. Ben
hatte der Frage keine rechte Aufmerksamkeit geschenkt. Er hatte sich mehrmals
dabei ertappt, wie er in Gedanken abschweifte und an die Schriftrolle von
Magdala dachte.
»Warum sollte das so sein,
Glenn? Meinen Sie, die mündliche Überlieferung sei für die Juden bedeutender
gewesen als die schriftliche?«
»Ich denke schon. Besonders
während der Diaspora. Die mündliche Überlieferung erhielt sie am Leben, als
ihre Schriftrollen unerreichbar waren.«
»Dem kann ich nicht
zustimmen«, meldete sich eine andere Studentin zu Wort. Sie hieß Judy Golden,
eine Studentin der vergleichenden Religionswissenschaft. »Wir leben noch immer
in einer Diaspora, und es ist das geschriebene Wort, das uns über die
Entfernung hinweg zusammenhält.«
»Eigentlich haben Sie beide
recht. Keine dieser Überlieferungen, weder die mündliche noch die schriftliche,
kann von der anderen getrennt behandelt werden.« Er warf einen Blick auf die
Uhr. Der Unterricht schien sich heute nur so dahinzuschleppen. »Gut, nun
befassen wir uns heute nachmittag ja eigentlich mit den Veränderungen, die im
Laufe der Jahrhunderte im geschriebenen und gesprochenen Hebräisch auftraten,
und mit den äußeren Faktoren, die diese Veränderungen bewirkten. Möchte sich
jemand dazu äußern? Wie steht es mit den Auswirkungen der Diaspora auf das
geschriebene Hebräische? Judy?«
Sie bedachte ihn mit einem
kurzen Lächeln. »Vor der Entstehung des Talmud mußten sich die Juden auf ihre
hebräischen Schriftrollen und auf ihr Gedächtnis verlassen. Doch im Zeitalter
des Hellenismus, als die Juden das Hebräische, ihre ›Heilige Sprache‹ mehr und
mehr verlernten, konnten sehr viele unter ihnen die Thora nicht mehr lesen. Zu
dieser Zeit entstand die Septuaginta, die Fünf Bücher Mose, in griechischer
Sprache, so daß dann alle über das Römische Reich verstreut lebenden Juden ihre
Heiligen Bücher lesen konnten. Aber ich glaube nicht, daß die Septuaginta das
Hebräische damals bloß verändert haben sollte; vielmehr beseitigte sie es ganz
und gar.« Benjamin Messer runzelte für einen Augenblick die Stirn. Judy hatte
ein ausgezeichnetes Argument vorgetragen, das er nicht zu hören erwartet hatte.
Während sie sprach, versuchte er sich zu erinnern, was er über sie wußte. Judy
Golden, von der Universität Berkeley an die hiesige Universität übergewechselt,
sechsundzwanzig Jahre alt, studierte im Hauptfach vergleichende Religionswissenschaft.
Sie war eine ruhige junge Frau mit ausdrucksvollen braunen Augen und langem
schwarzen Haar. Das Symbol des Zionismus, der Davidsstern, hing ihr an einer
Kette um den Hals. »Sie haben vollkommen recht«, meinte Ben, nachdem sie
geendet hatte. »Die Septuaginta schaffte in der Tat zwei entgegengesetzte
Bedingungen. Einerseits vermittelte sie den Juden, die kein Hebräisch
beherrschten, den Inhalt der Heiligen Bücher, doch andererseits entweihte sie
das Wort Gottes durch seine Wiedergabe in einer heidnischem Sprache. Hier haben
wir erneut ein gutes Beispiel dafür, wie untrennbar die hebräische Sprache mit
der hebräischen Religion verbunden ist. Um das eine zu studieren, muß man sich
auch mit dem anderen befassen.«
Ein weiterer verstohlener
Blick auf die Uhr. Konnte er sich daran erinnern, daß eine Unterrichtsstunde
sich jemals so in die Länge gezogen hatte? »Gehen wir nun weiter und kommen wir
zum nächsten Punkt«, sagte er, während er ein neues Wort an die Tafel schrieb:
Massora. Dann folgte ein Datum: Viertes Jahrhundert C. E. »Wahrscheinlich war
der erste Massoret Dosa Ben Eleasar…« Und während der ganzen Vorlesung mußte er
sich dazu zwingen, sich auf das zur Debatte stehende Thema zu konzentrieren.
Durch seinen Schlafmangel sickerten immer wieder Gedanken an die magdalenischen
Schriftrollen durch.
Er war erleichtert, als er
die Vorlesung eine Stunde später wieder für ein paar Tage hinter sich hatte.
Als Diskussionsthema für den kommenden Freitag standen die »Entwicklung des
Mischna-Hebräischen und Beispiele für Unterschiede zwischen diesem und dem
modernen Hebräisch« auf dem Unterrichtsplan. Er kündigte auch an, daß er in den
nächsten paar Wochen seine
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