Der Fluch des Koenigs
Teil 1
Kapitel 1
Der Festsaal des Schlosses sah aus wie ein Märchenwald. Säulen, Galerien und Fenster waren mit ausladenden Blumengestecken geschmückt, deren süßer Duft wie eine Wolke über der Festtafel schwebte. Reihen von seidenbespannten Laternen zogen sich durch den Saal und baumelten von der Decke wie Lianen, während Kerzenflammen, geschickt verborgen zwischen Blüten und Blättern, wie freche Glühwürmchen aufflackerten.
Was am Meisten verzauberte, waren jedoch die Schmetterlinge. Sie segelten und flatterten zwischen den Blüten hin und her wie lebendige Kunstwerke. Zuweilen ließen sie sich auf der Brosche einer Edelfrau oder einem rubinbesetzten Weinkelch nieder. Dabei warfen ihre Flügel zuckende Schattenbilder an die Wände und ließen sie zehnmal größer erschienen, als sie waren.
Moa saß am Kopf der üppig gedeckten Tafel und starrte auf die unberührten Speisen auf ihrem Teller. So sehr sie sich auch bemühte, war es ihr unmöglich, ihren Appetit zu finden.
Die einzige Person, die ebenfalls dem Wein und der überschwänglichen Stimmung entsagte, war ihr Verlobter, Prinz Alawas.
Jedes Mal, wenn Moa zu ihm hinüberschielte, erfasste sie Mitleid für den Prinzen. Wie ein verschüchtertes Kind kauerte der Erbe der Krone von Cinann auf seinem Stuhl und nuckelte an seinem Wasserglas. Seine Gesichtszüge waren einst klug und ebenmäßig gewesen, doch seit dem Unfall an seinem fünfzehnten Geburtstag, hingen sie schlaff herab. Sein braunes Haar glänzte noch immer wie früher, doch aus seinen Augen schien jegliches Licht verschwunden.
Moa senkte den Blick wieder auf ihren Teller. Es tat weh, Alawas so zu sehen.
„Prinzessin Moa!“, dröhnte eine Stimme.
Sie hob den Kopf. Herzog Doness, der nur wenige Plätze von Alawas entfernt saß, schmetterte seinen Weinkelch auf die Tafel. Ein roter Schwall ergoss sich über die fleischigen Hände des Adligen aus Cinann und tränkte die weiße Tischdecke der Tafel. Doch Doness schien es nicht zu kümmern. Er grinste breit hinter seinem fettigen Bart voll von Essensresten.
„Lasst uns einen Kuss sehen“, brüllte der Herzog über den Lärm des Saales hinweg. „Einen Kuss, Kuss, Kuss!“
Rhythmisch hämmerte er seinen Kelch auf die Tafel. Wein spritzte in alle Richtungen und benetzte das weiße Tischtuch und die Gäste, die das Pech hatten neben ihm zu sitzen. Zu Moas Entsetzen wurde sein Ruf von den anderen Adligen aus Cinann aufgenommen und bald darauf klopften sämtliche Anwesenden mit flachen Händen auf die Tafel oder ihre Schenkel und riefen aus vollen Kehlen, ihre Köpfe hochrot vom Alkohol, nach einem Kuss.
Moa saß wie erstarrt da. Anscheinend wussten diese Rüpel aus Cinann nicht, wie man sich an der Festtafel eines Königs zu verhalten hatte. Wenigstens auf der Seite der Adligen des Tals der tausend Flüsse konnte sie einige Zurückhaltung und sogar leicht beschämte Gesichter erkennen, doch die meisten von ihnen waren in den Ruf eingefallen.
„Kuss! Kuss! Kuss!“, schallte es durch den Saal.
Bestürzt blickte Moa zu Mahn, ihrem Onkel, dem König des Tals der tausend Flüsse. Sie erwartete, dass er diesem beschämenden Spektakel jeden Moment beenden würde. Doch Mahn saß nur da, die Hände über seinem Bauch gefaltet und den Blick unbeeindruckt auf die lärmenden Gäste gerichtet.
Es fiel Moa leicht zu erraten, was er dachte. Mahn hatte die Krone nie gewollt. Nur sehr widerwillig hatte er die Verantwortung für das Tal der tausend Flüsse übernommen, nachdem sein Bruder gestorben war. Noch mehr hatte er sich dagegen gesträubt, die Verantwortung für ein achtjähriges Mädchen zu übernehmen, das ihm auf den Thron folgen sollte. Das Kerzenlicht glänzte rötlich in seinem Bart und dem schwindenden Haar auf seinem Kopf. In den Fassungen seiner silbernen Krone glitzerten Splitter grauer Staubdiamanten. Der König sah alt aus und müde, froh darüber, dass er die Bürde seines Amtes endlich weiterreichen konnte. An sie.
Allein bei dem Gedanken stieg Übelkeit in Moa hoch. Denn obwohl ihr Onkel die Abneigung gegen sein Amt niemals überwunden hatte, war er ihr in all den Jahren wie ein Vater geworden. Mahn hatte sie verhätschelt, von der Welt und all ihren Problemen ferngehalten und sie nicht im Geringsten darauf vorbereitet Königin zu sein. Und Moa wollte, dass es so blieb. Sie hatte nicht vor, zu Ratssitzungen zu erscheinen, sich um Gesetzte oder Steuern oder gar Gesetzesbrecher zu kümmern. Jegliche Politik war ihr zuwider.
Doch
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