Der Fluch des Nebelgeistes 02 - Herr des Lichts
Asandir nichts. Und wie ein bunter Fächer oder eine Rolle fein gewobener Wandbehänge sich wie durch ein Wunder vor den Augen eines blinden Mannes entfalten mochte, so erkannte Arithon nun vertraute natürliche Formen, umflochten mit den silbrigen Konturen ihres Energieflusses. Die reine Tiefe dieser Vision überwältigte ihn.
Asandir sah keine Steine, sondern kristalline Gewebe, die die Matrix der Substanz selbst waren, und er sah noch mehr, sah das zarte Glimmen des Gewebes, das allem Sein zugrunde lag, das Glimmen, welches Vibration zu Materie verdichtete. Besser als ein Mann seinen wertvollsten Besitz kennen mochte, erkannte Asandir alles, was er sah, nicht nach seiner Art, sondern nach seinem Namen, dem Namen, der ihm das umfassende Verständnis für die Individualität eines jeden Seins vermittelte. Er wußte um die Signatur jeder Pflanze, vom Samen, der den ersten Trieb hervorbrachte, bis zu den Tagen, an denen ihr Wachstum von Sonnenlicht und Stürmen gezeichnet sein würde, bis zu den Zweigen und bis zu jedem einzelnen Blatt, das jemals von dem ausgewachsenen Baum hervorgetrieben wurde. Eine Eiche konnte er von jeder anderen Eiche unterscheiden, lebend, verrottend oder noch nicht einmal gekeimt, und er benötigte nicht mehr dafür als einen einzigen Blick. Hindernisse, Krankheiten oder die Robustheit gesunden Wachstums offenbarten sich klar vor seinen Augen. Für ihn war ein Eiskristall nicht einfach nur gefrorenes Wasser, für ihn hatte jeder einzelne Eiskristall unter den Myriaden seiner Art sein einzigartiges und ihm eigenes Muster. Er sah ihre Namen ebenso wie ihre Signaturen. Durch die bloße Berührung erkannte er jeden einzelnen der Kieselsteine in dem trockenen Flußbett und vermochte die verworrenen Knäuel der Energiebande zu unterscheiden, die ein jedes Sandkorn kennzeichneten. Diese Details, diese unsagbar umfassende Sorgfalt, die ein Blick in solche Tiefen erforderte, ließ den beobachtenden Geist ganz winzig erscheinen.
Arithon erkannte, daß er weinte. Nicht nur um seinetwillen und die Taubheit seiner Sinne, sondern wegen der Schönheit gewöhnlicher Wildkräuter, der unerträglichen Komplexität des geschuppten Panzers über den Flügeln eines Käfers. Wieder sah er, nun mit verfeinertem Blick, die Resonanz paravianischer Präsenz, und er sah auch, daß die Derbheit eines Pferdeapfels von demselben singenden Band der Energie aufrechterhalten wurde. Asandirs Blick auf die Ruinen von Ithamon hatten Arithon gezeigt, wie oberflächlich, ja unzureichend seine eigenen Kenntnisse waren. In erschreckender Deutlichkeit erkannte er nun, wie enorm der Reichtum dessen war, was er zurückgelassen hatte, als er Rauven verlassen hatte, um sich einem anderen Willen, einem anderen Schicksal, einem anderen Ruf zu unterwerfen; und nun sollte sich dieser Verlust wiederholen und noch steigern, wenn er sich einer zweiten ungewollten Krone hingeben würde.
Dann senkte Asandir das Schild seiner Konzentration. Frei von dem ehrfurchtgebietenden Spiegel der Wahrheit, den die Wahrnehmung eines Bruderschaftszauberers verkörperte, kam Arithon wieder zu sich und erinnerte sich der Gefahr, die zu dieser Suche geführt hatten.
Trotz all seiner ehrfurchtgebietenden Tiefe war die Beobachtung doch enttäuschend verlaufen. Das zerfallene Gemäuer hatte nichts Widrigem Zuflucht geboten, nur der geistlosen Hartnäckigkeit der Flechten, die unter dem Mantel der Winternacht schlummerten. Der Zauberer hatte seine Sondierung über die Mauern der Stadt hinaus ausgedehnt, unzählige Meilen über das Kernland von Daon Ramon, doch nirgendwo war er auf eine Spur jener Erscheinungsform Desh-Thieres gestoßen, die diesen erschreckend bösartigen Angriff durchgeführt hatte.
Er hatte keine Bewegung gesehen, bis auf die Nachteulen während ihrer Jagd; kein Tod abseits der von Hasen abgeweideten Wurzeln der Gräser; kein Geräusch, außer dem Spiel des Windes im trockenen Strauchwerk. Desh-Thieres Nebel war nichts weiter – nur Nebel, der sich kalt über die Ebenen senkte, leblos und träge.
Schroff und enttäuscht ließ Asandir die letzten Bilder seiner Vision los. »Ich kann ihn nicht finden.« In seiner Stimme schwang der harsche Ton des Leids mit, doch nicht wegen der demütigenden Erkenntnis, daß seine magischen Fähigkeiten der Aufgabe nicht gewachsen waren, sondern wegen seines Versagens und seinem tiefen Bedauern darüber, daß ein Fehler der Bruderschaft zwei Prinzen in Gefahr gebracht hatte, für deren Schutz sie Sorge
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