Der Fluch von Melaten
Der Friedhof war auch hier in seiner tiefen nächtlichen Stille begraben.
»Wo warten wir?«, flüsterte Petra mir ins Ohr.
»Im Schutz der Kapelle.«
»Gut, dann...«
»Moment noch. Sie haben genug geleistet, den Rest übernehme ich. Bleiben Sie bitte hier in der Nähe. Verstecken Sie sich meinetwegen hinter einem Baum oder einem Grabstein, aber lassen Sie mich alles bitte alleine machen.«
Sie suchte nach einem Gegenargument. Ich würde nichts gelten lassen und brauchte auch nichts zu sagen, denn vor uns durchbrach plötzlich ein Geräusch die Stille.
Es war das leise Weinen eines Kindes...
Keiner von uns tat etwas. Dieser Laut hatte uns für einen Moment auf der Stelle festgenagelt. Wenn ein Kind weint, ist das immer sehr schlimm, doch in dieser Nacht, in dieser Umgebung potenzierte sich das, und nicht nur ich spürte den kalten Schauer, der, wie von den Beinen einer Spinne getragen, über meinen Rücken glitt.
Zwei Dinge gesellten sich dazu.
Zum einen hatte ich Angst um das Kind. Zum anderen war ich froh, dass unsere Rechnung aufgegangen war und wir endlich etwas unternehmen konnten.
Das Weinen blieb, aber es änderte sich in der Tonlage. Es wurde leiser, wimmernder, und jeder Laut schnitt wie ein Messer in mein Herz hinein.
Auch Petra Schlomann stand unter Druck. »Mein Gott«, zischte sie mit erstickt klingender Stimme. »Wir müssen etwas tun, John. Wir müssen etwas dagegen unternehmen, das darf doch nicht so bleiben. Stellen Sie sich vor, das Kind wird umgebracht.«
»Sie bleiben zurück!«
Diesmal wartete ich ihre Antwort nicht erst ab, sondern machte mich auf den Weg.
Das Kind weinte vor mir. Genau dort, wo ich auch die Kapelle fand. Es stand im Freien, und ich hoffte, dass es dick genug angezogen war, um sich nicht zu erkälten. Ich dachte an die Eltern, die schliefen und nichts davon ahnten, was mit ihrem Nachwuchs hier geschah, und plötzlich stieg ein wahnsinniger Zorn auf die drei verfluchten Hebammen in mir hoch.
Das Weinen wies mir den Weg. Aber ich ging nicht besonders schnell, denn ich hatte meine Vorsicht nicht vergessen. Bei jedem Schritt bewegte ich auch den Kopf und suchte nach irgendwelchen Fallen, die mir möglicherweise gestellt worden waren.
Da gab es nichts zu entdecken. Die Umgebung blieb ruhig. Wenn sich etwas bewegte, dann waren es die Blätter, die von leichten Windstößen abgerissen worden waren und nun zu Boden trudelten.
Ich sah auch den mächtigen Baum, der in der Mitte gespalten war. Das Grab links daneben mit seinen zahlreichen Souvenirs war ebenfalls nicht verschwunden, und nach zwei weiteren Schritten fielen mir auch die Einzelheiten vor der Kapelle auf.
Die alten Grabsteine, die niemand mehr haben wollte, lagen noch immer dort. Man hatte sie nicht in einer Reihe aufgestellt, sondern einfach nur hingelegt, wie weggeworfen. Steine und schwere Kreuze.
Überwuchert mit Moos und Flechten würden sie wohl auch noch weiterhin hier vergammeln.
Sie waren mein Ziel, denn aus ihrer unmittelbaren Umgebung hörte ich das Weinen.
Noch ein letzter Blick in die Runde – nichts zu sehen –, dann ging ich schneller und hatte Sekunden später die Steine und auch die Quelle des Weinens erreicht.
Etwas Helles schimmerte zwischen den Steinen!
Ich bückte mich, ging noch einen Schritt vor und sah das kleine Kind, das eingewickelt in einen Schlafsack dort lag, die kleinen Ärmchen gereckt, die Hände geballt, und mir die kleinen Fäuste entgegenstreckte, als wollte es mich bitten, es in die Arme zu heben und wieder zu seinen Eltern zu bringen.
Es war nicht zu erkennen, ob ich auf das Gesicht eines Mädchens oder Jungen schaute. Ich wollte es ansprechen, aber in meiner Kehle schien ein Kloß zu stecken. Zorn auf die verfluchten Geister-Hebammen erfüllte mich.
Wahrscheinlich hatte mein Anblick das Kind beruhigt, denn das Weinen wurde leiser. Ich konnte mich wieder umschauen und brauchte nur einen Blick nach rechts zu werfen, um Bescheid zu wissen.
Dort lagen zwei weitere Kleinkinder.
Auch zwischen den Grabsteinen, ebenfalls eingehüllt in Schlafsäcke, aber sie waren so müde, dass selbst die Kühle und das Weinen sie nicht aus dem Schlaf schreckten.
Wäre alles normal gewesen, dann hätte ich jetzt Petra Schlomann gerufen. Wir hätten uns dann die Kinder gepackt und in einer Polizeistation abgegeben, aber das war nicht möglich, denn es gab noch Marietta, Sibilla und Hanna.
Ich zog mich schon an kleinen Dingen hoch, die mir Mut machten. Wichtig war zunächst, dass die
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