Der Fluch von Melaten
zu entwischen, das nicht mal abstrahlte und...
Die fremde Stimme war wieder da. Marietta sprach. »Es ist nur ein Aufschub!«, wisperte es durch meinen Kopf. »Nur ein kleiner Aufschub. Wir kriegen sie. Wir kriegen sie alle. Ich weiß das, wir wissen das. Wir holen sie uns...«
»Nein!«, sagte ich, »das wird nicht passieren, denn ich werde den Fluch löschen.«
»Nie!«
Ich wusste, dass sie es schaffen konnten. Für mich würde es trotz des Kreuzes schwer werden, sie mir vom Leib zu halten, und für mich gab es nur noch einen Ausweg.
Die Aktivierung des Kreuzes!
Die Formel kam mir laut gesprochen wie von selbst über die Lippen, so dass ich damit beweisen konnte, dass ich und kein anderer der Sohn des Lichts war.
»Terra pestem teneto – Salus hic maneto!«
Genau das war der richtige Weg!
***
Die Umgebung blieb die gleiche, aber trotzdem erlebte sie in der folgenden Sekunde eine rasante Veränderung, und daran trug einzig und allein mein Kreuz die Schuld.
Plötzlich war alles anders. Es gab die Dunkelheit nicht mehr. Gewaltige Lichtmengen strahlten in die Umgebung ab, und das Zentrum dieses Lichtes war mein Kreuz.
Ich hielt es mit der rechten Faust umklammert, und mein Arm war hoch gegen den Himmel gereckt. Es war die Pose des Siegers, und ich wusste genau, dass ich gewinnen würde.
Zwar befand ich mich noch immer auf einem Friedhof, doch ich hatte jetzt den Eindruck, auf einer Bühne zu stehen, die von einem grellen, sehr starken Licht erhellt wurde, durch das etwas dunklere Schatten glitten wie die weichen Körper der feinstofflichen Engel. Schatten, die sich dann in Blitze verwandelten und wie scharfe lange Scherben ihre Zielobjekte trafen.
Ernst Wienand erwischte es zuerst. Das heißt, eigentlich nicht ihn, sondern Marietta. Während er nach unten durchsackte und auf den Boden prallte, wurde ihr Geistkörper aus ihm herausgerissen, und somit war er von diesem Andenken aus der Zwischenwelt befreit.
Das Licht zersägte den Geist. Es riss ihn auseinander. Marietta löste sich in verschiedene Teile auf, die wie ein heller Sprühregen in den dunklen Himmel rasten.
Es erwischte auch Sibilla, nachdem sie sich von Justus Schmitz hatte lösen müssen.
Er schrie auf, als er landete, aber der Geist starb lautlos und für alle Zeiten.
Hanna musste ebenfalls daran glauben. Sie war schon zuvor zu Boden gesackt, wollte sich wieder erheben, als Kalle Höffgen seine Chance nutzte und auf mich zustolperte. Ich schaute für einen kurzen Moment in ein Gesicht, in dem das Nichtbegreifen festgeschrieben stand, dann stolperte er über seine eigenen Beine und blieb dicht vor mir liegen.
Hanna, die letzte der drei, fegte wie ein bleicher Kometenstrahl dicht über den Boden hinweg und genau auf die Grabsteine zu, wo Petra ihren Platz gehalten hatte, um die drei Kinder zu verteidigen, aber sie wurde von der Geisterscheinung nicht erreicht, denn dicht vor ihr riss es den Körper auseinander.
Es war vorbei.
Ich ließ meinen rechten Arm sinken. Das Kreuz steckte ich wieder zurück in die Tasche. Als ich mich zu Petra Schlomann hin umdrehte, wollte ich lächeln, aber es wurde nicht mehr als ein schlaffes Grinsen...
***
Ich musste mich einfach einen Moment ausruhen und blieb auf der gleichen Stelle stehen. In meinem Kopf spielte sich noch einmal das ab, was ich soeben hinter mich gebracht hatte, und es kam mir wie ein Wunder vor, dass diesmal alle Beteiligten gerettet worden waren. Auch wenn zwei der Männer stöhnend am Boden lagen, weil sie dort aus einer ziemlichen Höhe gelandet waren.
»John Sinclair...«
Es war nicht Kalle Höffgen, der mich angesprochen hatte, sondern Petra Schlomann mit ihrer weichen Stimme. Sie stand auch jetzt bei den Kindern und wollte, dass ich zu ihr kam.
Den Gefallen tat ich ihr gern. Einen Fuß stellte ich auf einen liegenden Grabstein, blickte in ihr Gesicht und hörte auch die flüsternd gestellte Frage.
»Habe ich das wirklich erlebt, oder ist es ein Traum gewesen?«
»Kein Traum, Petra. Der Fluch von Melaten ist gelöscht.«
Sie atmete auf, doch auf ihrem Gesicht zeigte sich noch immer eine gewisse Skepsis. Nach einer Weile senkte sie den Blick. »Dann kann ich mich ja jetzt um die Kinder kümmern – oder?«
»Tun Sie das, Petra. Kinder sind das Wichtigste. Sie sind Hoffnung und Zukunft zugleich...«
ENDE
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