Der Fluss
zwischen den überhängenden Zwei gen einiger Weidenbüsche am Ufer verschwunden.
Brian sah nur das hintere Ende der Baumstämme und Dereks Schuhsohlen auf dem Floß.
»Derek!«
Mit ausgestreckter Hand konnte Brian das Floß erreichen. Und doch wäre er, hätte er nicht im richtigen Moment aufgeblickt, beinah daran vorbeigeschwom men.
Er klammerte sich an das Floß und zog sich hinauf.
Derek lag reglos – obwohl sein Körper verrutscht war, schief auf die seitlichen Balken hingestreckt.
»Derek«, sagte Brian noch einmal. Leise und sanft.
Dereks Kopf lag noch immer auf der Seite, seine Augen standen noch immer offen, aber falls die Strom schnellen ihn unter Wasser gedrückt hatten – und sei es nur für einen Moment – , konnte es aus sein.
»Derek.«
Er lag da – wie ein Toter.
Brian tastete nach Dereks Handgelenk, fühlte aber kei nen Puls. Er beobachtete Dereks Brust, die sich nicht zu bewegen schien. Er beugte sich über seinen Kopf, brachte sein Ohr an Dereks Lippen und hielt den Atem an.
Da!
Er vernahm einen leisen Atemzug – nur einen Hauch – und dann noch einen. Beinah lautlos strich die Luft über Dereks Lippen. »Derek!«, rief er. Oh, Derek lebte noch. Er war noch immer am Leben.
In diesem Augenblick geschah mit Brian etwas Wun derbares. Es war wie ein Aufatmen und Loslassen. Sein Körper, sein Geist und seine Seele waren am Ende. Und er fiel – schlafend oder bewusstlos – lang über Dereks Körper, während seine Beine noch im Wasser hingen, und wusste nichts mehr.
»Derek.«
24
24
Und plötzlich paddelte er. Er hatte die Augen offen, kniete hinter Derek und beugte sich mit dem Paddel weit vor – und hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er hierher gekommen war.
Er hatte ein neues Paddel in den Händen, grob zu rechtgeschnitzt aus einem gegabelten Ast, mit einem Stück von Dereks Hosenbein, das – über die Astgabel ge streift – ein Ruderblatt bildete.
Brian trieb das Floß unermüdlich vorwärts, die Sonne strahlte auf ihn herab und alles war wie verwandelt. Alles war neu für ihn.
Es war eine andere Welt.
Wahrscheinlich habe ich geschlafen und mich im Traum bewegt …
Die Aktenmappe war verschwunden, in den Strom schnellen untergegangen – und damit die Landkarte.
Es machte nichts aus.
Die Ufer zu beiden Seiten waren grüne Mauern. Der Fluss plätscherte träge dahin, bis zur nächsten Biegung. Bäume ragten weit über das Wasser, und Brian sah nichts als blauen Himmel über sich, Wasser vor sich und endlo ses Grün zu beiden Seiten.
Er sah es – auch ohne Landkarte.
Ohnehin konnte er nicht mehr klar denken. Er wusste nicht, wie weit Derek und er vorangekommen waren, wie viele Stunden und Tage sie schon auf dem Fluss unterwegs waren, wie weit es noch war bis zum Handelsposten.
Er konnte nur noch rudern, nichts als rudern mit sei nem Paddel. Er sah nichts mehr, außer dem Floß und dem Paddel in seinen Händen, die längst nicht mehr blu teten, sondern am Schaft des primitiven Paddels klebten. Er kannte nichts mehr als den Wunsch – die zwingende Notwendigkeit – , Derek in Sicherheit zu bringen, irgend wohin, dort unten am Fluss.
Hunger und fehlende Nahrung, Entfernung oder Er innerung an zu Hause, Schlaf und die Starre seines Kör pers – all dies zählte nicht mehr. Es gab nur noch die Strecke, die vor ihm lag. Das Hin- und Herpendeln aus der Hüfte, wenn er das Paddel ins Wasser tauchte. Die Anspannung der Arme, zwei Schläge links, zwei Schläge rechts. Zwei links und zwei rechts …
Irgendwann am Morgen des nächsten Tages, an irgendeinem Tag nach tausend Tagen und Nächten, nach acht oder drei Tagen – er wusste nichts mehr und hatte längst nicht mehr mitgezählt – , irgendwann an diesem Morgen, als der Fluss breiter wurde und in weitem Bogen nach links schwenkte, sah Brian das Dach eines Hauses. Oder glaubte vielmehr, ein Dach zu sehen – diese gerade Linie zwischen den Bäumen, die anders aussah als die wuchernde Vegetation am Ufer. Und dann hörte er es, das Gebell eines Hundes. Nein, keines Wolfes, keines Kojoten, sondern das Gebell eines Hundes.
Ein kleiner Landesteg schob sich ins Wasser hinaus. Menschen hatten den Landesteg gebaut. Menschen hat ten Hunde, die bellten.
Brian ruderte weiter und sah noch immer nichts an deres als das Floß, diesen reglosen Körper auf den Balken und ein paar Meter Wasser davor, und so ruderte er dem Ufer entgegen, bis das Floß gegen den Landesteg stieß und zitternd zurückprallte.
Er war da.
Er hatte
Weitere Kostenlose Bücher