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Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meister Derek
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1
    Lübeck, Ende Juli anno 1394
    »Wenn sie dich zu lange ansehen, die Toten, nehmen sie dich hinab ins Meer. Sie ziehen dich in die Dunkelheit und stehlen dir deine Seele.«
    Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihre Lippen zu schließen. Hübsche Lippen, wie Rungholt bemerkte. Vormals hübsche Lippen, berichtigte er sich, denn nun waren sie rissig und blau.
    Auch ihre Augen waren blau. Wie durch einen Nebel starrten sie ihn an, als wollten sie ihn für das anklagen, was mit ihr geschehen war.
    Rungholt mahnte sich zur Ruhe, beugte sich tiefer über das Gesicht der Toten und rückte seine Stegbrille zurecht. Das linke Glas war seit Jahren gesprungen, aber er hatte weder die Zeit noch das Geld, sich eine neue aus Italien kommen zu lassen. Hier oben im Norden waren Brillen rar.
    Er rückte ihren Kopf aus den Regentropfen, die durchs schlechte Schuppendach fielen, und sah sich ihre Haut an. Wegen der Dunkelheit konnte er aber nicht genau sagen, ob sie bloß blass oder blau war. Brummelnd sah er sich nach seinen beiden Begleitern um, die im Bretterschuppen abseits der Leichen warteten und aus sicherer Entfernung Rungholts Tun zusahen. Gallberg, der Hospitalmeister, und Eric Dartzow, einer der vier Bürgermeister Lübecks, trauten sich nicht heranzutreten.
    »Gallberg, ich brauche die Lampe.«
    Mit einem Mal schoss grelles Licht durch die Bretterritzen des Schuppens. Ein Blitz erhellte flackernd den Raum, ließ die Züge der Neunzehnjährigen mehrmals aufleuchten. Draußen auf dem Hospitalhof konnte Rungholt Dartzows Riddere sehen, seine Leibwache. Die armen Kerle standen im Matsch und ertranken förmlich in dem Gewitter. Kurz darauf zerriss ein Donner das stete Trommeln des Regens.
    Es war vor der Komplet, doch wegen der ewigen dunklen Wolken verließ Rungholt öfters sein Zeitgefühl.
    Sein großer Kopf neigte sich noch einmal über das fahle Gesicht. Rungholts fässerner Körper vermochte kaum tief genug zu kommen, weil sein Bauch gegen das Brett stieß, auf dem sie die Leiche aufgebahrt hatten. Dennoch sah es für seine beiden Begleiter so aus, als versuchte er, die junge Frau zu küssen. Ihre Münder waren kaum mehr als fingerbreit voneinander entfernt, nachdem er sich mit den abgetretenen Trippen auf die Zehenspitzen gestellt hatte.
    »Was treibt Ihr? … Riecht sie?«
    Ohne sich umzudrehen, brachte Rungholt den Frager mit einer Handbewegung zum Verstummen. Er hatte es eilig und keine Zeit für unnütze Erklärungen. Ihn beunruhigte, dass das Gewitter seit der Vesper tobte und an Stärke nun auch noch zugenommen hatte. Diese Leichenschau kam zum ungünstigsten Zeitpunkt. »Gallberg! Lampe«, knurrte er und streckte seine Pranke nach hinten. Doch er wartete vergeblich. »Gallberg!«
    Der Hospitalmeister rieb sich abwesend den Schweiß vom halbkahlen Schädel und warf noch einen Tannenzweig auf das Feuer, das er in einem Zinkeimer entfacht hatte. Augenblicklich verbreitete der Rauch sich in der Bude und schnürte ihnen den Atem ab. Immerhin vertrieb der beißende Rauch den Gestank der Verwesung, den die zwei Dutzend Leichen ausströmten, von denen viele nicht einmal ein Leichentuch bekommen hatten.
    Seit anderthalb Jahren regierte in Lübeck nun schon der Hunger, doch in diesen Wochen war es besonders schlimm. Die Vitalienbrüder, eine Bande brutaler und gesetzloser Räuber zur See, hatten in der Ostsee die Oberhand gewonnen. Sie kontrollierten seit sechs Wochen, welche Schiffe Kurs auf Norwegen, Schweden und das Russenland nehmen durften. Sie plünderten und brandschatzten und griffen selbst Hanse-Konvois mit schwerbewaffneten Friedeschiffen an, die Lübeck lossandte. Der Seehandel war zum Erliegen gekommen und die Preise für einfache Lebensmittel – Stockfisch, Getreide und Fleisch – in die Höhe geschnellt.
    Das Heilig-Geist-Hospital, das größte Siechenhaus zwischen See und Alpen, vermochte die Ausgezehrten nicht mehr zu fassen. Alle Betten des Langhauses, ob Frauen- oder Männergang, waren belegt, und selbst in den Fluren der Anbauten reihten sich die Strohlager aneinander. Der Armenacker hinter dem imposanten Gebäude glich einem von Pockennarben zerfurchten Gesicht. Dicht an dicht frische Gräber, die kaum zugeschüttet wieder aufgerissen werden mussten, um noch mehr Lübecker aufzunehmen. Nachdem es gut zweihundert waren, auf dem Stückchen Land zwischen Königstraße und Langem Lohberg, hatte Gallberg verfügt, die Leichen einstweilen in diese Bretterbude auf dem Gelände des Heilig-Geist-Hospitals zu

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