Der Fotograf
sagte sie sich: Wenn das irgendeinem hiesigen Mitglied der
Veterans of Foreign Wars
eine Befriedigung verschafft, habe ich nicht das Recht, mich dagegen zu verwahren. Dafür waren Gräber und Gedenkstätten schließlich da – für die Lebenden, nicht für die Toten. Sie ertrug es nicht, den Grabstein und das verdorrte Gras anzublicken und sich vorzustellen, dass John darunter in seinem Sarg lag. Eine Erinnerung bahnte sich ihren Weg, bei der sie unwillkürlich den Atem anhielt:
Sterbliche Überreste können nicht aufgebahrt werden.
An einem der Sarggriffe hatte sich ein Etikett mit diesem Wortlaut befunden. Vermutlich hatte es entfernt werden sollen, bevor sie es zu sehen bekam, doch sie hatte es nun einmal entdeckt.
In ihrem abgrundtiefen Kummer hatte sie über dieses Anhängsel gerätselt.
Sterbliche Überreste können nicht aufgebahrt werden.
Zuerst war ihr der absurde Gedanke gekommen, John liege nackt darin, und die Army versuchte in einem idiotischen Männlichkeitswahn, sittlichen Anstand zu bewahren. Am liebsten hätte sie zu den Männern, die um den Sarg standen, gesagt, seid nicht albern, natürlich haben wir uns nackt gesehen, und es hat uns Freude gemacht. Wir waren schon an der Highschool ein Liebespaar und dann am College; in der Nacht, als er eingezogen wurde, und in den Stunden, bevor er mit dem Bus zur Kaserne fuhr, an der er seine Grundausbildung absolvierte; und dann in den zwei kurzen Wochen Urlaub, bevor er nach Übersee ging. Unten an der Küste von Jersey haben wir uns heimlich weggeschlichen, sobald unsere Eltern schliefen, und uns bei Mondschein nackt in den Sanddünen gewälzt.
Sterbliche Überreste können nicht aufgebahrt werden.
Sie hatte über diese seltsamen Worte nachgedacht. Sterbliche Überreste – nun ja, das war John. »Nicht aufgebahrt« bedeutete, dass sie ihn nicht anschauen konnte. Sie fragte sich wieso. Was hatten sie mit ihm gemacht? Sie versuchte, es herauszufinden, musste jedoch feststellen, dass man der Frau eines jungen Toten keine klaren Antworten gab. Stattdessen hatten alle sie in die Arme genommen und ihr gesagt, es sei das Beste so und Gottes Wille sei nun einmal unergründlich, und der Krieg sei die Hölle und alles Mögliche andere, was ihre Frage nicht beantwortete. Sie wurde ungeduldig und zunehmend verstört, woraufhin die Männer von der Army wie auch ihre männlichen Angehörigen nur umso beharrlicher schwiegen. Als sie ihre Forderungen schließlich lauter und schriller vorbrachte, fühlte sie sich fest am Arm gepackt. Es war der Leiter des Bestattungsinstituts, ein Mann, den sie noch nie im Leben gesehen hatte. Er hatte sie eindringlich angesehen und sie dann zum Staunen ihrer Familie in ein Nebenzimmer geführt. Dort hatte er sie nüchtern, geschäftsmäßig aufgefordert, in einem Sessel auf der anderen Seite des Schreibtischs Platz zu nehmen.
Während sie sich setzte, hatte er verschiedene Pa piere durchsucht und gewartet. Schließlich hatte er entdeckt, was er brauchte. »Man hat es Ihnen nicht gesagt, nicht wahr?«
»Nein«, erwiderte sie und hatte keine Ahnung, was er meinte.
»Man hat Ihnen nur gesagt, er sei tot, ja?«
Das entsprach der Wahrheit. Sie nickte.
»Nun denn«, sagte er knapp, um vorsichtig hinzuzufügen: »Sind Sie sicher, dass Sie es wissen wollen?«
Was wissen wollen, hatte sie sich gefragt, jedoch wieder genickt.
»In Ordnung«, seufzte er. Seine Stimme klang traurig. »CorporalBarren starb bei einer routinemäßigen Patrouille in der Provinz Quang Tri. Der Mann neben ihm trat auf eine Landmine. Eine große. Sie tötete Ihren Mann und die beiden anderen Männer.«
»Aber wieso kann ich ihn nicht …«
»Weil nicht genug von ihm übriggeblieben ist, was Sie sehen könnten.«
»Oh.«
Im Raum herrschte Schweigen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Kennedy hätte uns da rausgeholt«, erklärte der Leiter des Bestattungsinstituts. »Aber wir mussten ihn ja umbringen. Ich denke, er war unsere einzige Chance. Jetzt ist mein Junge da drüben. Gott, ich habe solche Angst. Es scheint, als würde ich jede Woche einen dieser Jungen unter die Erde bringen. Es tut mir so leid für Sie.«
»Sie müssen Ihren Sohn lieben.«
»Ja. Sehr.«
»Er war nicht ungeschickt, wissen Sie.«
»Wie bitte?«
»John. Er war trainiert. Er war sehr sportlich. Beim Football schaffte er die Touchdowns, beim Basketball warf er Körbe, und beim Baseball punktete er mit Homeruns. Er wäre nie auf eine Mine getreten.«
Sie dachte an den alten
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