Der Fotograf
1. KAPITEL
Die Gründe für Detective Barrens Obsession
1.
Sie träumte schlecht.
Sie sah ein treibendes Boot, zuerst von fern, dann plötzlich aus der Nähe, bis sie merkte, dass sie selbst in diesem Boot saß und ringsum von Wasser eingeschlossen war. Zuerst empfand sie Panik; sie wollte nach jemandem suchen und ihm klarmachen, dass sie nicht schwimmen konnte, doch jedes Mal, wenn sie sich umsah, verlor sie fast den Halt, die Jolle hob sich auf dem bewegten Wasser und verharrte einen Moment lang auf einem Wellenkamm, bevor sie beängstigend tief hinuntertauchte. Als sie sich mit aller Macht am Mast festklammerte, schrillte plötzlich eine Sirene, und sie wusste, dass dies ein Leck im Rumpf signalisierte und dass ihr jeden Moment das Wasser bis zu den Knöcheln stehen würde. Die Sirene dröhnte weiter, und sie machte den Mund auf, um verzweifelt um Hilfe zu rufen, während sie sich auf dem schwankenden Boden mühsam aufrecht hielt.
Im Traum legte sich die Jolle plötzlich schräg, und sie herrschte ihr schlafendes Selbst an, Wach auf! Wach auf! Bring dich in Sicherheit!
Genau das tat sie auch.
Sie schnappte nach Luft, riss sich aus dem Halbschlaf und saß im nächsten Moment senkrecht, während sie mit der rechten Hand das Bettgestell packte – ein fester Halt inmitten der diffusen Ängste aus ihrem Traum. Erst jetzt merkte sie, dass das Telefon klingelte.
Sie fluchte, rieb sich die Augen und fand den Apparat ein Stück weit entfernt auf dem Boden. Mit einem Räuspern meldete sie sich: »Detective Barren. Was gibt’s?«
Ihr blieb keine Zeit, sich zu fragen, was passiert sein könnte. Sie lebte allein – kein Ehemann, keine Kinder, die Eltern längst tot, und so konnte sie ein Anruf mitten in der Nacht nicht so leicht wie die meisten Menschen, die beim ersten Klingeln im Dunkeln eine schlimme Nachricht befürchtet hätten, in Angst und Schrecken versetzen. Da sich Verbrechen nicht an die Bürozeiten hielten, musste eine Kripobeamtin damit rechnen, nachts aus dem Bett geholt zu werden. Deshalb vermutete sie, dass im Zuge einer Ermittlung ihr fachliches Können als Kriminaltechnikerin gefragt war.
»Merce? Haben Sie schon geschlafen?«
»Ja, aber macht nichts. Wer ist da bitte?«
»Merce, Robert Wills vom Morddezernat, ich …« Er brach mitten im Satz ab. Detective Barren wartete.
»Wie kann ich helfen?«, fragte sie.
»Merce, es tut mir sehr leid, dass ich es Ihnen sagen muss …«
Wie in einer Momentaufnahme sah sie Bob Wills an seinem Schreibtisch im Morddezernat sitzen. Es war ein karges, nüchternes Großraumbüro im grellen Neonlicht, mit Aktenschränken aus Metall und orange leuchtenden Schreibtischen, deren Signalfarbe auf ihre Weise die entsetzlichen Geschichten spiegelte, die sie in den Gesprächen der Kollegen untereinander oder auch bei Zeugenbefragungen anhören mussten.
»Was?«
Für einen Moment war sie seltsam erregt – im Gegensatz zu der hilflosen Panik in ihrem Alptraum spürte sie jetzt so etwas wie einen Nervenkitzel, eine gespannte Erwartung. Als ihr Anrufer weiterhin schwieg, breitete sich ein Vakuum in ihrem Magen aus, dann ein flaues Gefühl. »Worum geht es?«, fragte sie und merkte, wie sich die neue Empfindung in ihrer Stimme niederschlug.
»Merce, Sie haben eine Nichte …«
»Ja, verdammt. Susan Lewis. Sie studiert an der Uni. Was ist mit ihr? Hatte sie einen Unfall?«
In diesem Moment traf sie die Erkenntnis mit aller Wucht: Bob Wills vom Morddezernat. Mord. Mord. Mord. Und sie wusste, worum es bei dem Anruf ging.
»Es tut mir leid«, wiederholte Wills, doch seine Stimme kam wie aus der Ferne, und einen Moment lang wünschte sie sich in ihren Traum zurück.
Detective Mercedes Barren zog sich rasch an und machte sich durch die spätsommerliche Nacht zu der Adresse auf den Weg, die eine fremde Hand notiert zu haben schien; obwohl ihr Herz raste, hatte diese Hand sorgfältig auf dem Block Zahlen und Buchstaben aneinandergereiht. Auch das Gespräch mit dem Kollegen vom Morddezernat hatte jemand anders beendet. Währenddessen hatte Merce miterlebt, wie jemand mit ihrer eigenen, ausdruckslos gepressten Stimme nach den näheren Umständen, nach dem Ermittlungsstand, den Namen der mit dem Fall befassten Beamten, nach dem vermutlichen Tathergang und ersten Theorien fragte, die man verfolgen wollte. Nach Zeugenaussagen. Beweismaterial. Hartnäckig widersetzte sich dieser Jemand Detective Wills Ausweichmanövern und begriff sehr schnell, dass der zwar nicht zuständig
Weitere Kostenlose Bücher