Der fremde Tote
Stück, das ich kenne? Ist es von dir?“, erkundigte sie sich beim Abschied. Ich verneinte und erklärte ihr, dass Korbi die Idee für die kleine Komödie von einem seiner Obdachlosen übernommen habe und dass dieser auch gleich selber die Hauptrolle spiele. Henri, so heisst der Obdachlose, ist ein gemütlicher Geselle. Von 60 Lebensjahren hat er deren 40 vornehmlich auf der Strasse zugebracht. Neuerdings logiert er aber in einem von Korbis Gästezimmern, wie sich das für einen aufgehenden Stern am Theaterhimmel gehört.
Manchmal zog es auch Aaron in das heimelige kleine Theater, welches Korbi und seine Freunde liebevoll eingerichtet und bemalt sowie mit alten Theater-Accessoires geschmückt hatten. Aaron unterhielt sich gerne mit Korbi, erzählte ihm von seiner Kindheit in Frankreich, von der Flucht nach Schweden mit der Familie im Zweiten Weltkrieg und wie sie schliesslich Anfang der Fünfzigerjahre einen Neuanfang in der Schweiz gewagt hatten. Über Religion wurde nur bedingt gesprochen, über Politik schon etwas mehr, doch äusserst behutsam. Korbi bezeichnete sich kurzerhand als ’gewaltfreien Anarchisten’, was Aaron stets lächelnd zur Kenntnis nahm. „Ach, ihr jungen Leute“, seufzt er manchmal, „geniesst bloss euer Leben. Ich bin nämlich nicht sicher, ob wir mehrere davon haben.“ Aarons Lebenserinnerungen, seine zahlreichen Reisen durch ganz Europa, Asien und die USA bieten Korbi immer wieder Stoff für kleinere und grössere Bühnenstücke. Ganz besonders liebt Korbi jiddische Musik und Werke russischer Komponisten. Über Musik und Kunst im Allgemeinen können Aaron und Korbi oft stundenlang freundschaftlich streiten und sich an den meist hitzigen Diskussionen erfreuen. Aaron ist ein sehr gebildeter Mann. So lässt er es sich nicht nehmen, hin und wieder Korbis Drehbücher zu überarbeiten. Er mag fesselnde Dialoge und Geschichten, die am Ende offen bleiben. „Es ist wie im richtigen Leben, du weißt nie, was als Nächstes geschieht“, dozierte er gern. „Und vergiss nicht, die Phantasie des Publikums mit einzubeziehen, jeder wünscht sich vielleicht eine andere Fortsetzung oder ein anderes Ende der Geschichte.“
6. Ein Publikumserfolg
Erwartungsgemäss war das kleine Theater bis auf den letzten Platz besetzt. Korbi flüsterte mir zu, dass Aaron das Publikum noch einige Minuten musikalisch auf dem Flügel unterhalten würde. Das war neu. Aaron hatte noch nie vor einer Aufführung Klavier gespielt. Korbi klärte mich auf: „Henri hat sein ganzes Selbstwertgefühl und sämtlichen Text vergessen. Er ist fast wahnsinnig vor Lampenfieber. Ich habe ihm verboten, vor dem Spiel Wein zu trinken, und das verkraftet er nicht. Er wollte sogar schon durch die Hintertür abhauen.“
„Muss er denn als Erster auf die Bühne?“, flüsterte ich im düsteren Foyer.
„Nein, erst kommt die Diva (Korbi nannte Elsie Anderson, die ehemalige Leinwandgrösse, stets die Diva, was ihr sehr gefiel). Dann folgt die kleine Liebeszene mit Julie (der jungen Kellnerin) mit einem Germanistik-Studenten namens Viktor. Diese Schmuserei muss Henri als besorgter Vormund des Mädchens rüde unterbrechen. Er meint aber, dass ihm diese Liaison vollkommen gleichgültig wäre und er dringend einen Schnaps benötige.“
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Beruhigend klopfte ich Korbi auf die Schulter: „Henri trinkt seinen Wein seit etlichen Jahrzehnten, und während der Proben hast du ihn auch nie davon abgehalten, trotzdem hat er gespielt, als hätte er nie etwas anderes getan als zu schauspielern. Also, lass ihn!“
Korbi winkte resigniert ab, und ich eilte in Henris ’Garderobe’.
Die Kosmetikerin, Frau Altenburg, war völlig aufgelöst. „Sehen Sie sich ihn an!“, kreischte sie verzweifelt, „ich habe ein Kunstwerk aus seinem Gesicht und seinem Haar gemacht, und nun sehen Sie sich das an!“
Henri wirkte wie ein Clown nach einem Fünfzigkilometermarsch. Er schwitzte, sein Make-up war total verschmiert und die weiss gepuderten Haare standen auf alle Seiten ab. Mit irrem Blick starrte er in den Spiegel und fluchte über die Menschenschinder, Sklaventreiber (womit wahrscheinlich einzig und allein Korbi gemeint war). „Keinen Schritt mache ich nach draussen. Ich verschwinde von hier, ausserdem weiss ich überhaupt nicht, welches Stück wir aufführen!“
Ich liess ihn noch eine Weile gewähren, dann tunkte ich ein Handtuch in eiskaltes Wasser und begann dem verdutzten Henri das Gesicht
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