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Der fremde Tote

Der fremde Tote

Titel: Der fremde Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agnes Jäggi
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Kraft gibt.“
    Ich war ergriffen und spürte, wie mir die Tränen übers Gesicht liefen.
    Linda schien es nicht zu bemerken oder aber sie schwieg aus Taktgefühl. „Das hier ist Corinna. Sie wurde überfahren, und die Dorfgemeinde hat beschlossen, dass ich mich um sie kümmern darf. Sie ist nun meine Tochter.“ Zärtlich strich sie dem Mädchen, das sich inzwischen erholt hatte und uns neugierig beäugte, übers Haar.
    Ein Mann, ehemaliger Grossbauer auf dem Apfelhof, räusperte sich schliesslich und wollte wissen, was mit dem Toten auf der Erde zu tun sei.
    „Warum spricht er eigentlich nicht?“, erkundigte sich eine weitere Anwesende im züchtigen grauen Tweedkostüm. Sie war, wie sich herausstellte, die einstige Hauswirtschaftslehrerin in Ernheim und der umliegenden kleinen Gemeinden im Tal gewesen. Ihr spitzes, von Ungeduld gezeichnetes Gesicht mit den nervös zwinkernden Augen veranlasste Korbi zu einem Grinsen. Ich kniff ihn in die Seite. Das hier war überhaupt nicht lustig. Ein fremder Toter war auf dem Friedhof von Ernheim gelandet, das konnte Ärger geben.
    „Er spricht nicht, weil seine Seele noch irgendwo herumirrt“, meldete sich Eva Halme zu Wort, die weisshaarige Dame und meine erste Bekannte auf Ernheims Friedhof. „Wir können gar nichts tun, sondern müssen abwarten, bis die Hülle von den Dorfbewohnern gefunden wird.“
    „Sollen wir die Polizei verständigen?“, anerbot ich mich.
    Korbi fand die Idee nicht so gut: „Wie willst du denen erklären, was wir mitten in der Nacht auf einem Friedhof auf dem Land zu suchen hatten?“ Das hatte etwas.
    Auch die übrigen Anwesenden lehnten meinen Vorschlag ab.
    Mathilde legte mir einen ihrer nach Lavendel duftenden Arme um die Schulter und sagte: „Kehrt lieber nach Hause zurück und kommt in ein paar Nächten wieder. Bis dann wird die Identität des Toten bestimmt geklärt sein.“

8. Unter Verdacht
     

    In dieser Nacht schlief ich nicht besonders gut. Frani spürte das wohl, denn sie kuschelte sich neben mich auf das riesige Kopfkissen und schnurrte mir beruhigend ins Ohr. Hin und wieder legte sie auch sanft ihre Pfote an mein Gesicht. Vor ungefähr fünfzehn Jahren fand ich das kleine dreifarbige Kätzchen mitten in der Stadt auf einer Kreuzung. Ich nahm das verschreckte dreckige kleine Bündel zur mir nach Hause, gab ihm etwas zu fressen und suchte umgehend den Tierarzt auf. Es war eine Sie, wie sich herausstellte. Frani war zwar unterernährt und verwahrlost, doch ansonsten gesund und robust, wie mir der Arzt versicherte. Damals muss sie ungefähr neun Monate alt gewesen sein. Jedenfalls wurde Frani entwurmt, entfloht und geimpft. Sie erhielt von nun an nur das Beste. Einen riesigen vielarmigen Katzenbaum, Kissen und Decken überall in der Wohnung, hochwertiges Futter und viel, viel Liebe. Sie dankte es mir, indem sie zu einer stattlichen zärtlichen Katzendame heranwuchs, die die Wohnung nur verliess, wenn ich hin und wieder in Urlaub fuhr. In solchen Zeiten logierte sie entweder bei Aaron oder bei Louise, der Frisörin, wo sie königlich bewirtet und verhätschelt wurde. Auch Korbi hatte sich anerboten, Frani bei sich aufzunehmen, wenn ich mal verreisen musste, doch bei ihm gingen einfach zu viele Leute ein und aus. Ich hatte panische Angst davor, dass Frani bei diesem Betrieb erschrecken und weglaufen könnte. Dafür brachten Korbi und seine Truppe jedes Mal, wenn ich eine Einladung zum Essen gab, Leckerbissen und Spielzeuge für Frani mit. Dabei fiel mir ein, dass ich die Gruppe für diesen Morgen zum Brunch eingeladen hatte.
    Um sechs Uhr stand ich auf, duschte heiss, trank einen Kaffee und holte frische Brötchen und einen mächtigen Zopf aus der Bäckerei. Glücklicherweise verkaufte der Bäcker auch Milch, Marmelade, Käse und Butter. Als Korbi, Julie, die Diva, Henri und Viktor um acht eintrafen, hatte ich bereits den Tisch gedeckt, und aromatischer Kaffeeduft erfüllte meine bescheidene Küche. Der Radiosprecher erwähnte kurz einen ominösen Leichenfund auf dem Ernheimer Friedhof, was meine Gäste – ausser Korbi – zu blöden Sprüchen und Witzeleien veranlasste: „Was für eine Sensation, ein Toter auf dem Friedhof!“, quäkte Henri, und Viktor mutmasste, dass die Leiche wohl keine Kraft mehr hatte, auch noch ein Grab für sich auszuheben, das würden jetzt wohl die anderen Friedhofsbewohner für ihn erledigen müssen. Eigentlich hatten Korbi und ich vorgehabt, unsere Freunde während des Frühstücks über die Ereignisse

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