Der Fruehling des Commissario Ricciardi
geh’ ich da rein, nie wieder «, informierte ihn die Gestalt des toten Diebes, der die Pistole in der Hand hielt und aus dessen Schädel Hirnmasse troff. Dann eben nicht, dachte Ricciardi verstimmt.
Nun war er an der frischen Luft. Das Wetter war perfekt. Der Frühling tänzelte um ihn herum und wollte beachtet werden. Aber der Mann, der bloß zuschaut und die Toten sieht, spürte ihn nicht.
Nach Hause. Nicht einmal mehr träumen darf ich von dir, Liebste.
Maione erzählte wie seit Jahren nicht mehr, mit Herz und Geist. Auf diese Weise durchlebte Lucia alles, was zuvor ihr Raffaele erlebt hatte. Und sie verstand. Sie verstand einmal mehr, was es hieß, Kinder zu haben: Kinder, die ihrer Mutter das Gesicht zerschneiden, die mit Fußtritten morden, die den Tod der Mutter erwarten, um heiraten zu können; und Mütter, die für sie lügen, stehlen und betrügen. Die für ihre Kinder auf die Liebe und das Leben, auf die Schönheit, auf ihre Träume verzichten.
Zuletzt beobachtete sie den Mann, der aus dem Fenster schaut und dem das Fenster weggenommen wird. Sie hörte zu, wie ihr Mann von einer neuen Verletzlichkeit erzählte, davon, wie er von der unmöglichen Liebe des Kommissars erfuhr, der Lucas Mörder gestellt hatte. Sie erinnerte sich vage an damals bei der Beerdigung: an seine grünen, kristallklaren Augen, die sein ganzes Leid widerspiegelten.
Sie dachte darüber nach, dass das Schicksal nicht vorhersehbar ist und viel Unglück bereithält, doch manchmal auch Glück. Und dass dem Schicksal ab und zu auch mal auf die Sprünge geholfen werden kann.
Sie presste die Lippen zusammen. Und dann lächelte sie der Liebe ihres Lebens zu, dem Vater ihrer Kinder: lebenden wie toten.
In der Dunkelheit ihres Zimmers versuchte Enrica, ihr seelisches Gleichgewicht zurückzugewinnen. Sie konnte nicht mit dem Weinen aufhören. Zu schmerzhaft empfand sie die Demütigung, die Kränkung, den Zorn. Gefühle, die ihr fremd waren, die sie nie gekannt hatte und gegen die sie folglich auch nicht anzukämpfen wusste. Sie hasste sich aus tiefstem Herzen.
Ihre Familie versuchte nicht einmal, sie aus ihrer Einsamkeit zu befreien. Die Zurückhaltung der jungen Frau war eine Barriere, die niemand einzureißen wagte.
Das Küchenfenster flößte ihr Angst und Schrecken ein, doch es war furchtbar, davon wegzubleiben: Das Paar grüner Augen aus dem Dunkel fehlte ihr jeden Tag mehr.
Leise hörte sie es klopfen. Sie antwortete, dass sie keinen Hunger habe.
Ihre Mutter ließ jedoch nicht locker:
»Es ist jemand an der Tür für dich, der nicht weggehen möchte. Es sei wichtig.«
Sie ging zur Tür. Dort stand eine hübsche, ihr unbekannte Frau mit blonden Haaren und hellblauen Augen. Sie trug ein schwarzes Tuch, doch darunter ein schönes geblümtes Kleid. Die Frau lächelte, blickte in ihre verweinten Augen. »Guten Abend«, sagte sie dann. »Mein Name ist Lucia Maione.«
Sein Essen hatte Ricciardi fast nicht angerührt. Ebenso wenig hatte er auf die besorgten Fragen seiner Tata Rosa reagiert. Angeschlagen und traurig hatte er der Musik gelauscht, die aus fernen Salons durch das Radio zu ihm gelangte, doch heute Abend gab es keine Tänzer und die Musik spielte ins Leere.
Es war schon spät, aber er hatte nicht den Mut, sich in seine dunkle Zelle zurückzuziehen, nur um sich noch einsamer zu fühlen als je zuvor.
Er zog sich aus, kleidete sich für die Nacht. Die Bewegungen dazu erfolgten mechanisch. Er hätte hundert Jahre alt sein können oder auch nie geboren worden sein.
Bevor er das Licht löschte, musste er noch einmal hinsehen. Und das Herz weitete sich ihm vor Liebe.
Hinter dem Fenster auf der anderen Straßenseite schaute ein Mädchen, das einen Stickrahmen in der Hand hielt, mit tränennassen Augen zu ihm hinüber.
Oben auf dem Dachfirst balancierte tanzend der Frühling und lachte.
Danksagung
Ricciardi verdankt seine Existenz Francesco Pinto und Domenico Procacci, die den Autor bei seiner Idee unterstützt haben.
Vieles verdankt er auch dem großen Können Manuela Madammas und Marinella Di Rosas, den Eingebungen Antonios und der Unterstützung Micheles, Professor Giulio Di Mizio und seinem professionellen, doch teilnehmenden Blick auf den Tod. Und Giovanni und Roberto, den fröhlichen Wurzeln jeder seiner traurigen Geschichten.
Der Autor allerdings dankt ein weiteres Mal von ganzem Herzen nur der wunderbaren Frau, ohne die sein Schreiben nicht möglich wäre: Paola.
Maurizio de Giovanni
Der Südwind trägt
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