Der Fruehling des Commissario Ricciardi
zu stellen. Er musste tun, was der Tod zu vollenden nicht die Zeit gehabt hatte.
Oder es zumindest versuchen.
In der Stille der Morgendämmerung betrat Ricciardi das Polizeipräsidium. Der Wachposten am Eingang saß noch ganz verschlafen in seinem Wärterhäuschen. Als er den Kommissar sah, wollte er aufspringen und salutieren, warf dabei aber bloß seinen Stuhl mit einem dumpfen Knall um, der im Innenhof verhallte. Verdrossen bedachte er den Ankömmling, der keine Miene verzogen hatte und ihm bereits den Rücken zuwandte, mit einer halb unflätigen, halb beschwörenden Geste.
Die Kollegen, Polizisten wie Untergebene, mochten Ricciardi nicht besonders; nicht etwa, weil er sich schlecht betragen hätte oder zu streng gewesen wäre. Ganz im Gegenteil, wenn überhaupt jemand Fehler oder Versäumnisse seiner Mitarbeiter vor den Vorgesetzten deckte, dann war er es. Es war vielmehr so, dass sie ihn nicht verstanden. Seine ruhige, eigenbrötlerische Art, das offensichtliche Fehlen jeder Schwäche, sein nicht vorhandenes Privatleben ließen keine kollegialen oder solidarischen Gefühle entstehen. Seine Fähigkeit, auch die schwierigsten Fälle zu lösen, hatte schon fast etwas Übernatürliches – und nichts flößte den Menschen in dieser Stadt mehr Furcht ein. Also hatte sich die Ansicht verbreitet und später gefestigt, dass man besser nicht mit Ricciardi zusammenarbeitete. Nicht selten kam es zu urplötzlichen Krankmeldungen, wenn jemand seinem Ermittlungsteam zugeordnet wurde. Oder man schrieb Ricciardis Gegenwartunerfreuliche Ereignisse zu, die mit ihm überhaupt nichts zu tun hatten.
Es war ein Teufelskreis: Je distanzierter Ricciardi sich verhielt, umso eifriger bemühten sich die Leute, ihn zu meiden. Der Kommissar schien sich dieses Umstandes nicht bewusst zu sein und litt folglich auch nicht darunter.
Bei den Vorgesetzten, dem Vizepräsidenten und dem Präsidenten, war es nicht anders. Es waren nicht die Zeiten, in denen man auf einen wirklich fähigen Mann leicht verzichten konnte. Immer häufiger mischte Rom sich in die Arbeit des Präsidiums ein und man stand unter Druck, die Effizienz der Ermittlungen zu belegen, indem man bei jedem Verbrechen der Presse bald einen Schuldigen zum Fraß vorwarf. Das Regime verlangte, dass das Leben in den Großstädten des Faschismus den Menschen Sicherheit und Zuversicht vermittelte: Ricciardi mit seinen schnellen und ungewöhnlichen Ermittlungserfolgen eignete sich dazu ganz vorzüglich.
Das Unbehagen, das seine Gegenwart auslöste, war jedoch unübersehbar. Er war nicht willkommen, daher wurden weder seine Verdienste anerkannt, noch erhielt er den Freiraum und die Beförderungen, die seine Erfolge geboten hätten. Man konnte nicht auf ihn verzichten, aber man belobigte ihn auch nicht. Ricciardi selbst schien an seiner Karriere nicht interessiert zu sein. Stets war er in seine Arbeit vertieft, eher ein Hohepriester der Gerechtigkeit als ein Staatsbediensteter, wenn er in seinem Büro saß oder zu Fuß die schmuddeligsten Viertel durchquerte, in strömendem Regen oder in sengender Hitze, immer auf der fieberhaften Suche nach dem Ursprung all des Schmerzes, der ihn zu ersticken drohte.
Trotz des Misstrauens, das man ihm allgemein entgegenbrachte, gab es allerdings zumindest eine Person, auf die er zählen konnte.
IV
Der Brigadiere Raffaele Maione trank seinen Kaffee auf dem kleinen Balkon und genoss die Aussicht. Eigentlich war das in seiner Tasse kein richtiger Kaffee; Maione war sich nicht sicher, ob er sich an echten Kaffeegeschmack überhaupt noch erinnerte. Und Balkon konnte man diesen kleinen Vorbau mit Geländer, den der Besitzer des Hauses im Vico Concordia vor zwanzig Jahren ohne Baugenehmigung hatte anbringen lassen, auch nicht nennen. Und schließlich das Gewirr verschlungener dunkler Sträßchen, die er sah, soweit das Auge reichte, ein Ort des Elends und der zwielichtigen Geschäfte: Man brauchte schon Fantasie, um davon als Aussicht zu sprechen.
Aber Maione hatte Fantasie und ebensoviel Optimismus. Oh ja, den hatte er weiß Gott. Ohne Optimismus hätte er manche Schicksalsschläge gar nicht meistern können.
Während es allmählich heller wurde, hielt Maione die Nase in die Luft, wie es ein paar Stunden vor ihm schon die Hunde getan hatten. Heute roch es anders. Vielleicht war es ja soweit und dieser endlos lange Winter hatte ein Ende. Ein neuer Frühling schien im Anmarsch zu sein: der dritte Frühling ohne Luca.
Maione hörte manchmal noch sein
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