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Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Der Fruehling des Commissario Ricciardi

Titel: Der Fruehling des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Warum dann nicht auch ihre? Wie lange sollte sie noch bezahlen für einen Fehler, den andere begangen hatten und den sie abbüßte?
    Sie brauchte bloß eine letzte Bestätigung, eine abschließende Genehmigung des Schicksals. Sie war sich ihrer Gefühle sicher, aber sie konnte es sich nicht erlauben, noch mehr Fehler zu machen. Damit musste Schluss sein.

    Ricciardi stand am Fenster seines Büros und blickte auf die Piazza Municipio. Die Straße war noch nass vom nächtlichen Regenguss, aber der Himmel war jetzt blau und wolkenlos. Eine leichte Brise trug den Duft des Meeres herbei.
    Die Bäume in den Grünanlagen der Piazza waren so geschnitten, dass sie den schmiedeeisernen Bänken Schatten spendeten. Zu den vier grünen Kiosken kamen die ersten Kunden, es wurden Zeitungen und Getränke angeliefert.
    Neben einigen Kutschen waren eine Handvoll Autos und ein Lieferwagen unterwegs. In der Ferne, jenseits der Piazza, sah man die drei Schornsteine des englischen Kreuzfahrtdampfers, der vor einigen Tagen angelegt hatte. Und über allem thronte das Castel Nuovo.
    »Noch kaum was los und bis jetzt kein Toter«, dachte Ricciardi, atmete tief ein und hielt die Luft einen Augenblick an. Dann atmete er langsam aus. Er wandte sich dem Raum zu, die Stadt lag nun hinter ihm; vor ihm befand sich »Ricciardis Zelle«, so nannten die Kollegen sein Büro.

    Die Alte hatte sie in ihren Bann gezogen. Zuerst hatte sie gelacht, als ihre gelangweilten Freundinnen ihr erzählten, wie sie ihre Nachmittage verbrachten, auf der Suche nach Liebe dem Traum von einer erfüllteren Zukunft nachhingen. Ab und zu hatte sie die eine oder andere begleitet und war Zeugin lächerlicher Vorstellungen gewesen: Sie sah bühnenreife Hexen mit Gehilfen, die Gespenster darstellen sollten und düstere Stimmen aus dem Jenseits ertönen ließen. Bloß dass das Jenseits sich hinter einerZwischenwand aus Holz befand, die von einem halbgeöffneten Vorhang mehr schlecht als recht verdeckt wurde.
    Dann eines Tages hatte sie Attilio kennengelernt; sie kam gerade aus dem Theater, wo sie wie üblich allein hingegangen war. Und an demselben, magischen Abend fand auch die zufällige Begegnung mit der alten statt. Sie hatte sich ihr humpelnd genähert; sie hatte sie für eine Bettlerin gehalten, nicht auf sie Acht gegeben und an ihr vorbeigehen wollen. Die Frau jedoch hatte sie am Arm gepackt, sie im Dunkeln angestarrt, und sie war verwirrt stehen geblieben. Dann hatte die Alte ihr mit ihrer kratzigen Stimme, der sie später noch so oft begierig lauschen sollte, ganz unverblümt gesagt, sie sei unglücklich, weil in ihrem Herzen Leere wohnte.
VI
    Mit der üblichen, überraschenden Geschicklichkeit ihrer krummen Finger mischte die Alte, vor sich hin murmelnd, die Karten: Emma hatte noch nie verstanden, was sie sagte, und wollte es auch nicht wissen. Nachdem sie ihre geheimnisvolle Formel gesprochen hatte, spuckte sie dreimal auf die Karten. Emma erinnerte sich deutlich daran, wie eklig sie das fand, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war versucht gewesen, aufzustehen und wegzurennen, aber die Kraft, die von diesen Gesten ausging, hatte sie festgehalten. Die Speicheltropfen waren von den flinken Händen und den anderen, übereinandergleitenden Karten schnell verwischt worden und verschwunden. Da plötzlich hielt die Alte ihr den Kartenstapel zum Abheben hin; die Eleganz der Bewegung erinnerte an einen Croupier. Emma seufzte, sie hatte schweißnasse Hände. Die Alte nahm die Hälfte der Karten und legte sie auf das fleckige Tischtuch. Die übrigen ordnete sie in acht kleinen Stapeln kreuzförmig an, dann sah sie ihr direkt in die Augen. Nach einer langen Weile, in der Emma sich wie stets fühlte, als würde sie in einem Meer aus Öl versinken, deutete sie auf den Stapel in der Mitte des Kreuzes. Die Alte nickte und blieb immer noch stumm. Seit Emmas Ankunft war noch kein einziges Wort gesprochen worden.
    Mit der typischen unerwarteten Bewegung, die Emma jedes Mal zusammenzucken ließ, schlug die Alte mit der Faust auf den Stapel, den sie ihr gezeigt hatte, und krächzte dabei: »Sprich durch mich!«
    Erschrocken stoben zwei Tauben von dem kleinen Balkon davon. Drei Stockwerke weiter unten, auf der Straße, setzte das Geschrei der Kinder einen Augenblick aus. DieZeit stand still, während Emma abermals einer Magie beiwohnte, an die sie blind und von ganzem Herzen glaubte. Die Alte hielt die Augen jetzt geschlossen und atmete heftig; ihre Lippen waren

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