Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
und sagte, weil mir nichts Besseres einfiel, danke. Dann fragte ich sie, zögernd, denn ich wollte nicht zu dreist sein: »Und du, fühlst du dich stabil?«
Sie dachte darüber nach und sagte mit, wie ich fand, einer gewissen Trauer in der Stimme: »Manchmal, das heißt, nein, eigentlich nicht.« Bevor ich etwas erwidern konnte, setzte sich Chuck dazu, dann kam Mike, und das Gespräch kam auf Strände und Kater und den Zeitplan der Fähren. Aber als ich Erica ansah und sie mich, spürte ich, dass wir beide wussten, dass zwischen uns etwas ausgetauscht worden war, vielleicht die erste Einladung zu einer Freundschaft, daher wartete ich geduldig auf eine Gelegenheit, unser Gespräch wieder aufzunehmen.
Eine solche Gelegenheit ließ lange auf sich warten – eigentlich mehrere Tage lang. Vielleicht glauben Sie, dass mich das Warten frustrierte, aber Sie müssen bedenken: In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche Ferien verlebt. Wir mieteten uns Motorroller und kauften Strohmatten, die wir dann an Stränden aus schwarzem Lavasand ausbreiteten, die die Sonne zu stark für nackte Haut aufgeheizt hatte; wir wohnten in putzigen Häuschen, die im Sommer von älteren Paaren zimmerweise an Touristen vermietet wurden; wir aßen gegrillten Tintenfisch und tranken Sprudelwasser und Rotwein. Davor war ich noch nie in Europa gewesen, geschweige denn im Meer geschwommen – wie Sie ja wissen, ist Lahore anderthalb Flugstunden von der Küste entfernt –, also gab ich mich den Vergnügungen in dieser reichen, jungen Gesellschaft hin.
Zugegeben, es waren da schon einzelne Dinge, die mich störten. Beispielsweise die Leichtigkeit, mit der sie ihr Geld ausgaben und sich nichts dabei dachten, dass ein Essen auch mal – wenn auch nicht sehr häufig – vielleicht fünfzig Dollar pro Nase kostete. Oder ihre Selbstgerechtigkeit beim Umgang mit Leuten, die sie für ihre Dienste bezahlt hatten; »Aber Sie haben es uns doch gesagt «, beschwerten sie sich bei Griechen, die doppelt so alt wie sie waren, um dann darauf zu beharren, dass etwas nach ihrem Willen lief. Ich mit meinen begrenzten und abnehmenden Geldreserven und meiner traditionellen Ehrerbietigkeit Älteren gegenüber wunderte mich, durch welche Laune der Menschheitsgeschichte meine Begleiter, denen es so ganz an Kultiviertheit fehlte und von denen ich viele in meinem Land als Emporkömmlinge betrachtet hätte, in der Lage waren, sich auf der Welt zu benehmen, als wären sie ihre herrschende Klasse.
Aber vielleicht neige ich auch dazu, diese Ärgernisse rückblickend und in dem Wissen, welchen Verlauf mein Verhältnis zu Ihrem Land später genommen hat, zu übertreiben. Zudem standen die Übrigen der Gruppe für mich nur im Hintergrund; im Vordergrund schimmerte Erica, und sie zu beobachten schenkte mir eine enorme Befriedigung. Sie hatte mir gesagt, dass sie nicht gern allein sei, und ich merkte zunehmend, dass sie es auch selten war. Sie zog die Menschen an; sie hatte Präsenz, einen ungewöhnlichen Magnetismus . Wollte ein Naturforscher ihre Wirkung auf ihre Umgebung dokumentieren, er würde sie wahrscheinlich mit der einer Löwin vergleichen: kräftig, geschmeidig und immerzu Stolz ausstrahlend.
Dennoch hatte man das Gefühl, dass sie innerlich einen gewissen Abstand zu denen hielt, die um sie herum waren. Nicht, dass sie unnahbar gewesen wäre; sie hatte ein freundliches Wesen. Aber man spürte, dass ein Teil von ihr – und das war vielleicht kein unwesentlicher Aspekt ihres Reizes – unerreichbar war, versunken in ungesagten Gedanken. Es genügt zu erwähnen, dass sie im Verhältnis zu den zeitgenössischen Frauenikonen Ihres Landes weniger dem Lager der Spears’ als dem der Paltrows angehörte.
Aber mein kultureller Verweis ist bei Ihnen auf taube Ohren gestoßen! Sie wirken abgelenkt, Sir; die hübschen Mädchen von der Staatlichen Kunstakademie haben offensichtlich wieder Ihre Aufmerksamkeit in Beschlag genommen. Oder beobachten Sie vielleicht den Mann da, den mit dem Bart, der viel länger ist als meiner, den, der neben den Mädchen stehen geblieben ist? Sie glauben, er wird sie wegen der Unangemessenheit ihrer Kleidung schelten: ihrer T-Shirts und Jeans? Kaum anzunehmen. Diese Mädchen fühlen sich in dieser Gegend wohl und kommen wahrscheinlich häufig her, es ist eher er, der deplatziert wirkt. Außerdem gehört zu den vielen Regeln, die für die Basare von Lahore gelten, diese: Wird eine Frau von einem Mann belästigt, hat sie das Recht, sich an die
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