Kalter Amok
1
Roland Silva steuerte den Wagen, eine Hand lässig auf dem Lenkrad liegend. Er saß gegen die Tür gelehnt, um den vollen Strahl der kalten Luft aus dem Ventilator der Klimaanlage auf sein Gesicht zu bekommen. Aus einem Pepsi-Becher fischte er zerstoßenes Eis.
»Kothman muß den Wagen während seiner Schicht gefahren haben«, sagte er mürrisch. »Die Luft, die da rauskommt, riecht wie aus der Kloake.«
Peter Walther schüttelte das blonde Haupt. Auch sein schlaksiger Körper lehnte an der Tür, während seine Augen in der schmutzigen Dunkelheit die kleinen Fachwerkhäuser kritisch prüften. Selbst gegen Ende seiner Schicht, wo er sich am wenigsten wünschte, einem Betrunkenen zu begegnen oder zu einer Familienstreitigkeit gerufen zu werden, beobachtete er sehr bewußt die Ränder der Schatten, wo neunzig Prozent dessen stattfand, was eigentlich nicht stattfinden durfte.
Es war nur noch eine knappe Stunde bis zu ihrer Ablösung, und Walthers und Silvas Fahrt durch das Mexikanerviertel im Magnolia Park entfernte sie nie allzuweit von den Lichtern des Navigation Boulevards, der Nabelschnur, die sie mit der annähernd fünf Meilen entfernten Polizeistation in der Innenstadt verband.
Die beiden Männer waren seit neun Monaten Kollegen beim Einsatz – lange genug, um ein Kind zu bekommen, dachte Walther –, und sie hatten ihre Launen und ihre empfindlichen Punkte kennengelernt. Erst kürzlich war Lenny Kothman, ein zigarrenrauchender Bär von Streifenbeamten, der einen Softball wie eine Kanonenkugel schleudern konnte, für Silva zu einem Dorn im Fleisch geworden. Und seit Kothman wußte, daß Silva, der bei ihren Spielen am Samstagnachmittag bis dahin jeden kaltstellen konnte, nicht mit den Bällen fertig wurde, die Kothman als »geschmiert« bezeichnete, hatte sich dieser Dorn tiefer eingegraben und war zu einem schwärenden Dauerschmerz geworden.
»Ist dir eigentlich klar«, sagte Walther, und seine Stimme wurde von dem Fenster vor seinem Gesicht reflektiert, »daß du inzwischen so weit bist, Kothman für alles und jedes die Schuld zu geben?«
Silva schaute Walther scharf an und drehte das Radio leiser.
»Was willst du damit sagen?« fuhr er ihn an.
»Ich sage nur, daß es mir auffällt«, erwiderte Walther.
»Scheiße.« Silva kippte sich den letzten Rest der zerkleinerten Eiswürfel in den Mund und warf dann den leeren Becher auf den Sitz. Er kaute wütend und schaute verdrießlich drein, während sie an der katholischen Marienkirche vorbeifuhren.
Walther lächelte vor sich hin. Wenn sie diesmal den Navigation Boulevard erreichten, würde Silva scharf nach links einbiegen, in das Licht der Hauptdurchgangsstraße brausen und in einem ungestümen Versuch, die aufgestauten Frustrationen loszuwerden, die Nadel des Tachos auf hundertzwanzig jagen, ehe er den Wagen wieder auf die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit verlangsamte. Dabei würden sie schweigend ein Drittel des Weges zum Streifenwagen-Depot zurücklegen, und Silva würde sich wohler fühlen. Kleinigkeiten bedeuteten ihm eine Menge.
Aber statt einzubiegen, fuhr Silva weiter durch die 76. Straße in Richtung auf die stinkenden Werften, die den Wendeplatz des Schiffskanals von Houston säumten. Als ihn Walther fragend anschaute, zuckte Silva mit den Schultern und sagte: »Abwechslung macht das Leben süß.«
Die Straßen wurden enger, als sie sich den Werften näherten. Tanker und Frachter mit flimmernden Lichtern lagen in den Docks oder warteten am Wendeplatz; ihre exotischen Fahrten hatten ein Ende gefunden im ranzigen Gestank der Chemiefabriken jenseits des Hafens und in den öligen Dieselwolken aus den Barkassen, die das Wasser durchpflügten. Jenseits des Kanals stöhnte eine Schiffssirene.
»Du hast zur Abwechslung wirklich eine idyllische Route gewählt«, sagte Walther. »Und du hast einen großen Fehler gemacht.«
»Nee. Wir werden gleich umdrehen. Und dann halten wir nur noch an, wenn wir zufällig auf eine wilde Schießerei stoßen.«
Sie krochen die mit Schlaglöchern übersäte Straße entlang, wo sich Ladenfronten mit stillen Bars abwechselten, deren Neonreklamezeichen dunkel waren in dieser letzten Stunde vor dem Tagesanbruch. Eine einzelne Hure, ein müdes, eingefallenes Gesicht, beobachtete sie mit den Augen einer Rauschgiftsüchtigen aus einer Tür, durch die weiches, bläuliches Licht auf die Straße fiel.
Silva folgte der Straße bis zum letzten Lagerhaus am westlichen Ende des Hafenbeckens und fuhr dann an der
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