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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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ich nun nicht im Gegenzug sogar dazu verpflichtet, ihm ebenfalls die ganze Wahrheit über mich zu erzählen? Was aber würde dann geschehen? Ich erinnerte mich an meine traurige Stimmung, als ich zum ersten Mal, vor nunmehr fast zwei Jahren, über die Konsequenzen meiner übernatürlichen Fähigkeit nachgedacht hatte. Es war ernüchternd gewesen. Wer würde mit einem Gedankenleser eng vertraut sein wollet, hatte ich mich gefragt. Wahrscheinlich gab es darauf nur die vernichtende Antwort: Niemand!

29

    An einem trüben und schon recht kühlen Herbsttag, etwa acht Wochen nachdem Boris Lappland verlassen hatte, geschah etwas Unerwartetes.
     

    Kurz nach neun in der Frühe klopfte es an die Tür meines Blockhauses. Was mich sehr wunderte. Denn Besuch bekam ich ja praktisch nie. Mein Vermieter ließ sich nur äußerst selten bei mir blicken, und in den letzten Monaten war ein einziges Mal ein Wanderer vorbeigekommen und hatte sich nach dem Weg erkundigt. Das war es dann aber auch schon gewesen.
    Ich hatte gerade gefrühstückt und saß nun lesend an meinem kleinen Esstisch. Es klopfte ein weiteres Mal. Ich stand auf und ging zur Tür. Während ich an den Schlössern hantierte, denn zur Nacht sperrte ich immer besonders gut ab, hörte ich draußen das Räuspern eines Mannes. Dann endlich war alles entriegelt, ich drückte die Klinke nach unten, öffnete vorsichtig die Tür, da sie nach außen aufging, und dort stand, mit strahlendem Gesicht: Boris.
     

    Ich war sprachlos. Für ein paar Augenblicke.
    Aber dann sagte ich: »Du? Hier? Jetzt?«
    Er lachte. »Ja, ich, hier, jetzt!« Und machte einen Schritt auf mich zu und umarmte mich. Meine Freude, ihn zu sehen, wurde sofort von der Angst überschattet, genau in dieser Sekunde etwas aus seinem Gehirn zu hören oder wahrzunehmen. Eben das wollte ich ja unbedingt vermeiden.
    Tatsächlich zog sofort vor meinen inneren Augen die Farbe der Freude auf, alles wurde blau. Ich fühlte mich wie gelähmt. Ich konnte ihn jetzt doch nicht von mir wegdrücken. Allerdings vermochte ich die Umarmung auch nicht zu erwidern. Zu groß war meine Sorge, dass sie dann noch länger andauern würde. Er hatte seine gewaltigen Arme um mich gelegt und schien gar nicht mehr von mir ablassen zu wollen.
    »Gut, dich zu sehen«, flüsterte er mir ins Ohr und presste beinahe seinen Kopf an meinen. Es gab kein Entrinnen. Ich war gefangen.
    Und dann tauchte sie plötzlich auf, aus den Tiefen seines Gehirns: die Stimme! Und ich hasste sie wie noch nie zuvor. Ich ekelte mich vor ihr, ich verfluchte sie - und wünschte ihr nichts mehr als den ewigen Tod. Denn ich spürte, dass sie zwischen mir und dem Leben stand.
     

    Gut, dass ich ihm nichts von meinem Plan geschrieben hab. So ist die Überraschung ja wohl perfekt gelungen.
    Er sagt nichts, er regt sich nicht einmal, und vorhin sein Gesichtsaus --- so --- raschen --- und --- blü --- tr --- aubt ---
     

    Ich zuckte zusammen. Die Stimme - sie hörte sich anders an als sonst, sie wirkte gebrochen, und am Ende konnte ich sie kaum mehr verstehen. Nur noch Wortfragmente und unzusammenhängende Laute krächzte sie.
    Ich löste mich aus Boris' Umarmung, versuchte meine Verblüffung zu überspielen, bat ihn herein und kochte sofort Kaffee für uns.
    Natürlich freute ich mich riesig über seinen Besuch. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Ich war auch deshalb so überrascht, weil wir uns in den letzten Wochen viele Briefe geschrieben hatten. Aber in nicht einem war die Rede von einem baldigen Zusammentreffen gewesen. Boris hatte alles im Geheimen geplant. Ich fühlte mich beinahe beschämt, denn ich konnte mich nicht erinnern, dass je einmal jemand über dreitausend Kilometer geflogen war, nur um mich zu besuchen, um mich zu sehen. Dass er zu mir gekommen war, hatte sicher auch mit unseren Briefen zu tun. Sie waren für uns beide etwas Besonderes gewesen. Wir hatten zu noch mehr Offenheit und Vertrauen gefunden. So eine Männerfreundschaft war mir bislang noch nicht begegnet. Selbst zu Moritz, damals in unseren besten Zeiten, hatte ich nicht annähernd ein so herzliches Verhältnis gehabt.
     

    Boris erzählte von zu Hause, von Ann-Katrin, von seiner Mutter, von seiner Arbeit. Er hatte seinen Chef überredet und noch eine Woche Urlaub herausgeschlagen. Ich erzählte von Tuuli, von einem neuen Wanderweg und von einem unfreiwilligen Ausflug in die zirka zweihundert Kilometer entfernte Provinzhauptstadt. Dort hatte ich mir ein Ersatzteil für meinen Wagen

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