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Der Gedankenleser

Der Gedankenleser

Titel: Der Gedankenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Domian
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sagte er. »Ich habe dir die ganze Wahrheit gesagt. Ich schwöre es dir - und ich schäme mich so sehr. Das alles trage ich nun schon über sieben Jahre mit mir herum - und von Jahr zu Jahr wird es schwerer für mich.«
     

    Es entstand eine Gesprächspause.
     

    »Was ist mit Tanja?«, fragte ich.
    »Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.«
    »Warum hast du dich den Behörden nicht gestellt? Warum bist du nicht zur Polizei gegangen und hast dort alles genauso geschildert wie mir gerade?«
    »Ich hatte Angst, man würde mir nicht glauben. Und unter Umständen wäre ich für Jahre in den Knast gewandert und hätte Ann-Katrin alleinlassen müssen. Sie wäre dann sowohl ohne Mutter als auch ohne Vater aufgewachsen.«
     

    Wieder schwiegen wir.
    Ich war bestürzt über das, was Boris zu verantworten hatte. Keine Frage. Aber ich war auch erleichtert, dass er mir die Geschichte erzählt und somit gebeichtet hatte.
    Und ebenso erleichtert war ich, keinen wirklichen Mörder vor mir sitzen zu haben. Es lag keine Heimtücke vor, es gab keine niederen Beweggründe. Oder etwa doch? Vielleicht hätte man von Totschlag reden können, vielleicht aber auch »nur« von unterlassener Hilfeleistung. Ich hatte keine Ahnung. Meiner Beurteilung ging natürlich die unbedingte Annahme voraus, dass er mir wirklich die ganze Wahrheit erzählt hatte. Aber konnte ich da sicher sein?
    Deshalb hakte ich nach.
     

    »Du warst so voller Hass. Der Typ hatte dir deine Existenz ruiniert und dir die Frau weggenommen - wollest du ihn wirklich nicht« - ich atmete einmal tief durch - »töten?«
    »Arne, ich schwöre es dir beim Leben meiner Tochter! Nein! Das hatte ich wirklich nicht vor! Ich wollte ihm nur eine ordentliche Abreibung verpassen. Und ich wollte, dass wir einander gegenüberstehen, Aug in Aug, und dann sollte er mir nur diese eine Frage beantworten: Warum hast du mir das angetan?! Warum?!«
    Er schwieg.
    »Allerdings ... ich muss gestehen, und das macht die Sache für mich noch viel schlimmer, während wir kämpften, da war mir für Sekunden alles egal. Ich hatte keine Macht mehr über mich, ich war völlig enthemmt. Ich habe wie ein Irrer auf ihn eingeschlagen ...«
    »Auch dann noch, als er am Boden lag?«
    »Nein, da nicht mehr. Da hatte ich mich schon wieder im Griff. Aber es gibt für mein Verhalten keine Entschuldigung. Keine Rechtfertigung. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich in den letzten Jahren diese Begegnung in dem Motel immer und immer wieder in Gedanken durchgespielt habe ... Wäre ich doch bloß niemals dorthin gegangen!«
     

    Er gab noch eine Wodkabestellung auf - und sprach dann weiter:
     

    »Auch die Frage nach dem ›Warum‹ - was soll das!? Was nutzt einem die Antwort darauf? Heute ist mir klar, dass ich alles falsch gemacht habe. Es tut mir so unendlich leid. Ich habe ein Menschenleben auf dem Gewissen, mein Gott.«
     

    Seine Stimme wurde immer dünner.
    »Und weißt du, mit Tanja, das ist so eine Sache. Ja, er hat mir die Frau ausgespannt, die auch noch gerade die Mutter meines Kindes geworden war, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie lange vorher schon etwas zwischen den beiden lief. Ich will es mir auch gar nicht vorstellen. Aber je intensiver ich darüber nachgedacht habe, desto mehr wurde mir klar, dass sie ebenso viel Schuld trifft wie ihn. Sie hat es mitgemacht, sie hätte Nein sagen können. Und überleg mal: Sie wusste ja auch, dass Dirk mich durch seinen Betrug in den Ruin stürzen würde. Was für ein verkommenes Miststück! Und überhaupt, mich hätte sie ja sitzenlassen können, aber ihr Kind so im Stich zu lassen - das ist für mich unbegreiflich.«
     

    Er schaute mich an. So nach Fassung ringend hätte ich ihn mir zuvor niemals vorstellen können. Aber auch ich war völlig außer mir.
     

    »Warum hast du dich damals, kurz bevor du aus dem Motelzimmer gegangen bist, nicht zu ihm niedergebückt? Um zu sehen, wie es ihm geht? Du hattest dich zu diesem Zeitpunkt doch schon wieder im Griff.«
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Auch das werfe ich mir so sehr vor. Ich war wohl immer noch wie im Rausch. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich beim Hinausgehen aus dem Zimmer gedacht habe: Stell dich bloß nicht so an, das bisschen Nasenbluten, das habe ich auch.«
    »Wie war es denn früher? Hast du dich oft mit anderen Männern geprügelt?«
    »Nein, nur ein einziges Mal, im Suff, da war ich sechzehn. Danach nie wieder.«
     

    Ich wusste ihn nichts mehr zu fragen.

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