Der gefrorene Rabbi
erheben, bis ihm schließlich einfiel, dass er nun eine höhere Berufung hatte. Nachdem er sich den Mund abgewischt und die Augen abgetupft hatte, kroch Salo nach vorn, um die Eiszange auseinanderzuzerren. Er rappelte sich auf und durchstöberte die Trümmer in der armseligen Hütte. Schließlich fand er zwei Kerzen, die er mit einem Schwefelstreichholz anzündete und an beiden Enden des Ermordeten aufstellte.
Ununterbrochen das kaddisch murmelnd, warf er ein Tuch über den alten Spiegel, dessen Oberfläche quecksilbertrüb angelaufen war. Dann zwängte er sich hinter den Kachelofen und verbrannte sich dabei den tocheß, um ein Wandbrett zu lösen, hinter dem Josl seine mageren Schätze versteckt hatte: eine Handvoll groschnß und mehrere völlig wertlose Dukaten, eine nicht unterschriebene Postkarte mit einem Sepiabild von Lodz, einen zerbeulten Fingerhut, der seiner Frau gehört hatte. Zusammen mit der schwarzen Brotrinde und dem getrockneten Hering, die sein Vater zum Abendessen auf den Tisch gelegt hatte, schob Salo alles in eine geräumige Hosentasche. Als er sich bückte, um einen umgestürzten Stuhl hinzustellen, merkte er, dass er ihn mit festem Griff packte, um ihn gegen das Ofenrohr zu donnern. Dieses brach auseinander, und eine nackte Flamme züngelte zur Decke. Er trat aus der Hütte, gerade als Casimir, ein polnischer Dienstmann mit rußigen Augen, an einem fransigen Stück Seil Josls aufgeblähte alte Mähre vorbeizerrte. Obwohl er wusste, dass das Tier so gut wie nutzlos war, händigte Salo dem Gepäckträger sogleich sein gesamtes Erbe aus (ohne die Postkarte und den Fingerhut), um den scheckigen Gaul auszulösen. Schon bogen sich die Dachschindeln seines früheren Heims nach oben, und Rauchfäden drangen heraus, da fasste Salo die Zügel der Mähre, die den Namen Bat-Scheva trug.
Natürlich war ihm bewusst, dass Rabbi Elieser ben Zephir, wenn überhaupt jemandem, dann seinen frommen Gefolgsleuten gehörte. Doch die Gefrorenen Chassidim und ihre Familien packten wie alle anderen ihren Besitz zusammen, und nirgendwo in diesem trübseligen Exodus klappernder, hoch mit Kerzenleuchtern und Federbetten beladener Karren und Leiterwagen konnte Salo einen gewaltigen Eisblock erspähen. Einfallsreichtum hatte nie zu seinen Stärken gezählt, und eigentlich hatte er auch sonst nie Stärken an den Tag gelegt, doch auf einmal konnte er aus einem Fundus von Tüchtigkeit schöpfen, den er sogleich als das Erbe seines Vaters verbuchte, und machte sich daran, das metallumrandete Rad an Josls Lieferkarren zu ersetzen. Als er nach einer Stunde damit fertig war, spannte er Bat-Scheva davor, deren träger Vorwärtsdrang sich offenkundig allein ihren chronischen Blähungen verdankte. Salo hielt kurz vor dem alten Gebetshaus, um sich den Zedernschrein anzueignen, der unter dem halb eingestürzten Dach an einer Wand lehnte. Das war der einzige, stark ramponierte Sarg, den das Dorf für die Begräbnisse der vergangenen hundert Jahre immer wieder benutzt hatte. Nachdem er ihn auf den Karren geladen hatte, führte der Jüngling den Klepper bergauf zum Eishaus, wo er sich eifrig in die Funktionsweise eines an der Schwelle zusammengerollten Flaschenzugs vertiefte. Er schlang den Mechanismus durch die Luke hinab in die stygische Grotte und ließ sich selbst hinunter, um die Taue am Eisblock zu befestigen. Oben dann erwachten Salos Muskeln, die in seinen siebzehn Lebensjahren zumeist geschlummert hatten, und er hievte den rebbe mit schierer Körperkraft über die Holzrampe aus der Katakombe hinaus ins bereits nachlassende Tageslicht. Trotz der bitteren Kälte heftig schwitzend, schob er den Eisblock über eine zweite, behelfsmäßige Rampe aus durchhängenden Planken auf die Ladefläche des Karrens. Dort hackte er mit der Axt seines Vaters Stücke vom Rand weg, bis er den zum Schutz mit Sackleinen umhüllten Block über notdürftig zusammengenagelte Bretter in den Sarg schieben konnte. Da Bat-Schevas Bauch schon über den Boden schleifte, als wäre sie mit Kanonenkugeln gefüttert worden, war es ausgeschlossen, dass er sich auf den Wagen setzte. So zog Salo an den Zügeln und brach ohne weiteres Zaudern (von wem hätte er sich nach der allgemeinen Flucht auch verabschieden sollen?) auf in die ungefähre Richtung der Stadt Lodz, die einige Wegstunden außerhalb des russischen Rayons lag.
1999
D ie Entdeckung eines alten Juden in der Tiefkühltruhe führte zunächst zu keinem größeren Wandel in Bernie Karps Alltag.
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