Der gefrorene Rabbi
seit dem babylonischen Exil in Besitz zu haben. Das Geschäft war Mendels schuldbewusstes Geschenk an ein Waisenkind, das seit dem Alter von sechs Jahren sein Mündel und Sklave gewesen war. Von außen ähnelte der eingesunkene Bau mit dem kuppelartigen Steinvorsprung einem uralten Grabmal und war dadurch eine überaus passende Ruhestatt für das Boibiczer Wunder. Es war ein Ort, wo sein Körper sozusagen aufgebahrt sein und dem Verfall trotzen konnte, bis zu der Zeit, da er eine Auferstehung für angemessen hielt - das behaupteten zumindest seine Jünger. Sehr zu Josls Verdruss bestanden die Boibiczer Chassidim darauf, die Ruhestatt ihres rebbe zu ehren wie ein heiliges Grab. Am Eingang trällerten sie ihre Gebete (nur nicht das kaddisch), legten Botschaften in die Fugen zwischen den Steinen und kehrten abwechselnd Sägemehl und Flachs weg, die sich unter dem durchsichtigen Liegeplatz des Heiligen sammelten. Obwohl sie einander mahnten, seine Masse nicht zu verringern, schabten sie insgeheim Späne von dem Eisblock, die sie mit einem Tropfen Honig süßten, um sie hingebungsvoll zu lutschen. Da sie sich weigerten, Elieser ben Zephir offiziell für tot zu erklären, konnten die Gefolgsleute keinen Nachfolger wählen und gingen wegen ihrer Verehrung des tiefgekühlten Rabbis als die Gefrorenen Chassidim in die Geschichte ein.
Doch so unterhaltsam die Possen gläubiger Fanatiker auch waren, die Einwohner von Boibicz hatten andere Sorgen. Die Erlasse der zaristischen Regierung folgten in derart schwindelerregendem Tempo aufeinander, dass Dinge, die am Morgen noch erlaubt waren, oft am Nachmittag schon verboten waren. Der jüngste Ukas erklärte, dass es den Juden zu ihrem eigenen Besten untersagt war, in den Dörfern außerhalb ihres Ansiedlungsrayons Gasthöfe, Schenken und Geschäfte zu betreiben. Außerdem durften sich auch in den Orten und Weilern innerhalb des Rayons keine neuen Juden niederlassen, sodass manche geschäftlich verreisten Kaufleute oder Familien, die hohe Feiertage begangen hatten, nicht mehr nach Hause zurückkehren konnten und in nahe gelegenen Orten strandeten. Die byzantinische Logik dieser Gesetze, die selbst für die gelehrtesten Talmudisten unergründlich blieb, hatte zur Folge, dass viele langjährige Bürger von Boibicz heimatlos wurden, und auch die anderen erkannten die Zeichen der Zeit. Schließlich mussten sich die Juden mit der Vorstellung eines umfassenden Exodus von einem Ort vertraut machen, an dem ihre Familien schon seit Generationen gewohnt hatten. Doch noch immer zauderten sie. Zuletzt bedurfte es einer Abordnung von Nachbarn, die unter dem Schutz eines von der Regierung entsandten Kosakenregiments und vor den Augen einer untätigen örtlichen Polizei handelte, um ihren Abschied zu beschleunigen.
Obwohl die Täter fast mechanisch zu Werk gingen, richteten sie eine große Verwüstung an, und die Vorsätzlichkeit, mit der sie Gewalt anwendeten, verminderte nicht deren Grausamkeit. Ohne großes Trara drangen sie in das schäbige Judenviertel ein, zerschlugen Ladenfenster, schleppten Stoffballen, pedalbetriebene Nähmaschinen, Spirituslampen, ungerupfte Hühner und alles andere heraus, was ihnen in die Hände fiel. Im Flur der Synagoge entleerten sie den Darm und wischten sich den haarigen Hintern mit den zerrissenen Pergamentschriftrollen der Thora. Den melumed und Händler Fejwusch Gutwert hängten sie mit dem Patriarchenbart an seinem Ladenschild auf. Der Idiot Schajke Tam, den sie an den Fersen baumeln ließen, quiekte vergnügt, weil er es für ein Spiel hielt, bis sein schwachsinniges Gehirn über der Wand des schtibl verspritzt wurde. Wer in den Wald floh, wurde gehetzt und in Stücke gerissen. Von denen, die in den Häusern blieben, überlebten die meisten, unter ihnen auch Josl Choleras Sohn Salo, der im Eishaus Zuflucht gesucht hatte.
Eigentlich hatte er kaum noch einen Fuß aus dem Schatten der kühlen Grotte gesetzt, seit er über den ins Eis gebannten Rabbi Elieser ben Zephir gestolpert war. Obwohl sich seine Jünger gewissenhaft um den gefrorenen rebbe kümmerten, hatte Salo ein erstaunliches Interesse an seiner Entdeckung entwickelt und war auf die Idee verfallen, dass die Pflege des Heiligen seine persönliche Aufgabe war. Mit wachen Ohren lauschte er den Geschichten, die die Jünger über die wundersame Frömmigkeit des Rabbis erzählten, und wenn niemand sonst zugegen war, ließ es sich der unschuldige Bursche (der dem Alter nach schon ein junger Mann war) nicht
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