Der gefrorene Rabbi
Familientradition.«
Bernie, der nichts von Traditionen in seiner Familie geahnt hatte, zog sich wieder in sein Schweigen zurück. Dann war es an seiner Schwester Madeline, sich zu Wort zu melden. Mit einer gewissen Herablassung erkundigte sich die üppige junge Frau, die außerordentlich stolz auf ihre übernatürlichen Formen war: »Hey! Leute, ähm, worüber redet ihr hier eigentlich?«
Bernie ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und vermied vorsichtshalber jeden Blickkontakt mit seiner Schwester, die ihn vielleicht im Verdacht hatte, ihre Unterwäsche gestohlen zu haben. Sein Vater folgte diesem Beispiel, weil Madelines Aussehen im mattgrauen Karp-Haushalt sehr bedrängend wirken konnte. Nur Bernies Mutter, die noch immer im Essen herumrührte, ließ sich, leicht pikiert, zu einer Antwort herbei. »Er stammt aus der Familie deines Vaters. Die waren schon immer abergläubisch.«
»Er ist ein Andenken« - Mr. Karp verfiel in Verteidigungs-haltung -, »das sie von Generation zu Generation weitervererbt haben.« Er schob die schlaffen Schultern nach vorn und bemühte sich, so etwas wie Stolz auf einen Gegenstand zu zeigen, dessen Existenz ihm offenbar bis gerade eben völlig entfallen war.
Gereizt schob Madeline ihren Stuhl zurück, blies eine blassblonde Strähne weg, die ihr sofort wieder in die Augen fiel, und stolzierte entschlossen aus dem Esszimmer. Kurz darauf ertönte aus dem Keller ein Kreischen, und Mr. Karp erschauerte. »Bei dem Rabbi war auch ein Buch dabei«, meinte er schließlich, als würde das der Sache eine offizielle Weihe erteilen. »Yetta, wo ist das Buch?«
»Was für ein Buch?«
Mit einem tiefen Seufzen rückte Mr. Karp die Brille zurecht und erhob sich umständlich, um das Zimmer zu verlassen, als Madeline gerade von unten heraufkam, das sonst so rosige Gesicht leichenblass. »Ich, ähm, will irgendwie nichts mehr mit dieser Familie zu tun haben?«, erklärte sie fragend.
»Hier ist es.« Mr. Karp quetschte sich an seiner vollbusigen Tochter vorbei zurück ins Esszimmer. »Es war in der unteren Kommodenschublade, unter meinem Freimaurerschurz.« Mr. Karp hatte sich örtlichen Kapiteln der Freimaurer, den Löwen und den Elchen, angeschlossen, und zwar schon zu einer Zeit, als die Aufnahme von Juden in solche Organisationen noch nicht selbstverständlich war. Doch sein Ansehen und sein tadelloser Gemeinsinn hatten ihm den Status eines Ehrenjuden eingetragen. Es war ihm sogar gelungen, seiner Familie die Mitgliedschaft in einem exklusiven Countryclub zu sichern, die sie allerdings selten nutzten - mit Ausnahme Madelines, die dank ihrer natürlichen Proportionen ohnehin überall Zutritt hatte.
Mr. Karp reichte seinem Sohn eine schlaffe Kladde, wie man sie für die Buchführung verwendete. Gleichgültig blätterte Bernie darin herum. Statt mit Zahlen waren die Seiten mit unleserlichen Zeichen bedeckt, die Notenschlüsseln und Angelhaken ähnelten.
»In dem Buch wird erklärt, wo der Rabbi herkommt«, fuhr Mr. Karp selbstbewusst fort. »Mein Papa hat alles eigenhändig verfasst. Das Dumme ist nur, dass er Jiddisch geschrieben hat.« Er hätte genauso gut Marsianisch sagen können. Leicht entschuldigend fügte er hinzu: »Angeblich bringt er Glück.«
Was für Glück, fragte sich Bernie, als er das Kontenbuch in sein Zimmer hinauftrug, das ein Friedhof aufgegebener Hobbys war: unbemalte Gerüste von Modellautos, der zerbrochene Plastikrumpf eines durchsichtigen Skeletts, eine staubbedeckte PlayStation. Obwohl seine einzigen echten Leidenschaften bisher lediglich reichliches Essen und neuerdings erotische Fantasien waren, überflog er träge die bekritzelten Seiten. Doch als sie nicht ein Jota ihrer Bedeutung preisgaben, stopfte er das Buch unters Kissen zu Madelines Höschen und sank sofort in einen traumlosen Schlaf.
1889-1890
W enn der heilige Mann Rabbi Elieser ben Zephir, das Boibiczer Wunder, näher zu Gott gelangen wollte, setzte oder vielmehr legte er sich an einen bestimmten Weiher im Wald vor seinem Dorf. Dort meditierte er anhand von Techniken, die in Gedalia Ibn Jahjas Gürtel des Abimelech beschrieben sind, über die Buchstaben des Tetragrammaton, bis er in Trance verfiel. In seiner Jugend hatte man ihn gefeiert für seine öffentlichen Gedächtnisdarbietungen, seine Fähigkeit, ganze Passagen aus dem Talmud vorwärts und rückwärts zu zitieren, und seine großen Taten, die die Nichteingeweihten als magisch bezeichneten. Doch jetzt, an seinem Lebensabend, war er längst
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