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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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auf seinen Notizblock »Heizkennlinie« und versieht den Begriff mit einem Fragezeichen. Die Beilage erschien im Vorfeld einer Messe für Nachhaltigkeit, die er mit seiner Oberstufenschulklasse besuchen möchte. Bevor er die Zeitung mit der rechten Hand wieder anfasst, kratzt er sich mit dem Kugelschreiber am linken Nasenflügel.
    Er ist Lehrer, nennen wir ihn Markus, und er hat im Sinn, mit seiner Klasse eine Projektwoche zum Thema Energie zu machen, in der die Schüler auch Vorschläge zur Energieeffizienz des Schulhauses erarbeiten sollten. Dieser Ausdruck ist in den Artikeln mehrmals zu lesen, er legt nun die Zeitung nieder und notiert ihn unter Heizkennlinie, überlegt sich dann, ob irgendjemand, vor die Aufgabe gestellt, ein Wort zu nennen, das die Buchstabenfolge »eeff« enthält, auf »Energieeffizienz« kommen würde.
    Mit dem Daumen und dem Zeigefinger der linken Hand schiebt er die Brille etwas hoch, reibt sich die Nasenwurzel und fährt sich dann noch kurz über beide Augenbrauen.
    Beim Blick auf seinen Notizblock wird ihm klar, dass
er schon wieder vergessen hat, was genau netzgekoppelte Solar-Wechselrichter sind, obwohl er dazu »Turnhalle« geschrieben hat. Vielleicht müsste er einer Gruppe von Schülern die Aufgabe stellen, auf der Messe alle Ausdrücke aufzuschreiben, die sie nicht verstehen.
    Er macht sich eine entsprechende Notiz, rubbelt sich kurz die Mundwinkel und liest dann die Frage an den Fachmann, wie viele Energiekosten man durch eine energieeffiziente Elektroinstallation sparen könne. Die Antwort : »Das ist schwierig festzustellen, denn jede Installation ist individuell.«
    Er schüttelt den Kopf und lacht trocken. Dazu braucht er wahrlich keinen Fachmann. Während er mit der linken Hand die Seite umschlägt, hebt er mit der rechten Hand den Brillenbügel und kratzt sich mit dem Mittelfinger hinter dem Ohrläppchen. Zuoberst auf der nächsten Seite bleibt sein Blick auf einem Foto stehen. Es zeigt einen Fragenden und einen Befragten, Fachleute schon wieder, und der Befragte hat den Kopf zur Seite geneigt, stützt den Ellbogen auf einen Tisch und hält eine Hand so vor den Mund, dass der Zeigefinger direkt unter den Nasenlöchern durchgeht.
    Markus ist elektrisiert. Dem naiven Betrachter mag dies eine natürliche Haltung scheinen, wie sie oft von Zuhörenden eingenommen wird. Sie erlaubt ihnen dann auch, wenn sie zu einer Äußerung schreiten, den Mund wirkungsvoller freizusetzen, verbunden etwa mit einem leichten Vorschnellen des Oberkörpers. Aber für ihn bedeutet das Bild etwas anderes.
    Warum?

    Er wird seit längerem von einem Juckreiz heimgesucht, den wahrzunehmen er sich anfänglich weigerte. Darauf reagierte er so, wie das menschliche Nervensystem es offenbar vorgesehen hat, er rieb sich an der betroffenen Stelle. Diese Stelle war zuerst vor allem die Nase und ihre engere Umgebung. Ein Kribbeln an der Nasenspitze oder zwischen den beiden Nasenlöchern hielt so lange an, bis er mit seinen Fingern eingriff und es zum Erliegen brachte. Oft hatte er das Gefühl, ein winziges Insekt laufe ihm übers Gesicht, er hatte auch schon blitzschnell über seinem Nasenrücken zugepackt, weil er sicher war, etwas in die Hände zu kriegen, und sei es nur ein Spinnenfaden, aber nie hatte er danach irgendetwas gesehen. Während er unterrichtete, war er durch seine Tätigkeit abgelenkt, aber sobald er allein war, konnte es seiner Aufmerksamkeit nicht mehr entgehen, dass hier etwas im Gang war, das ihn ernsthaft störte. Sein Gesicht war zur Angriffsfläche für einen unsichtbaren Feind geworden, der versuchte zur Nasenspitze vorzudringen und dabei auch über die Ohren, die Brauen, das Jochbein, das Kinn oder die Kiefer einbrach.
    Markus, der immer ein Dynamiker gewesen war, entwickelte ein gewisses Geschick in seiner Gestik, die nun häufig das Gesicht streifte und ihm, wenn er eine Handbewegung dazu benutzte, sich beiläufig zu kratzen, den Anschein eines schnellen Denkers gab, der zur Unterstützung seiner Gedanken noch kurz mit den Händen nachhalf.
    Der Besuch bei einem Dermatologen war ergebnislos verlaufen. Dieser war mit seiner Gesichtshaut durchaus
zufrieden, konnte keine Rötungen, Flechten oder sichtbare Reizungen erkennen, fragte ihn nach beruflichem Stress, den Markus durchaus vorweisen konnte, empfahl ihm dann, täglich eine Feuchtigkeitscrème aufzutragen, und für den Fall, dass dies ohne Wirkung bleiben sollte, schrieb er ihm ein Rezept für eine cortisonhaltige Salbe. Von Markus

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