Der Geisterfahrer
und er hatte begonnen, seine Mitmenschen auf ihre verstohlenen Kratzbewegungen hin zu beobachten. Eine Teamsitzung des Kollegiums war bereits sehr ergiebig; wenn einer sprach und die andern zuhörten, sah man da oder dort eine Hand unter einen Pullover greifen und kurz die Nierengegend kneten oder einen Daumen, der mit dem Zeigefinger zusammen die Nasenspitze in die Klemme nahm, oder einen Mittel- und Zeigefinger, die bedächtig das Ohrläppchen abrieben, während sich der Daumen unter dem Kiefer zu schaffen machte.
Und was er im kleinen Kreis feststellte, war durchaus auch in der Öffentlichkeit zu erkennen. In der »Tagesschau« begann er sein Augenmerk auf Sitzungen zu richten, von denen jeweils ein kurzer Ausschnitt zu sehen war, und wenn sich zwei Delegationen an einem Tisch gegenübersaßen, konnte man sicher sein, dass sich eines der Mitglieder mit der Hand in den Nacken griff oder in den Hemdkragen fuhr. Auch der Blick auf ein zuhörendes Parlament war interessant. Wer sein Kinn in die Hand gestützt hatte, hatte ja sämtliche Finger frei, wobei häufig der kleine Finger im Augenwinkel oder im Tränensack zum stillen Einsatz kam. Im Aufstützen des Kinns durch beide Hände gab es reiche Variationen, sei es, dass die beiden Daumen die Unterkiefer bearbeiteten oder die zwei Zeigfinger in die Nasenflügel stachen, oder beides zusammen. Markus ließ, seit ihm das klar geworden war, bei der Tagesschau stets ein Video mitlaufen und kopierte sich jedes Schläfenkratzen, Nasenbeinkneifen und Adamsapfelzupfen heraus. Diese Ausschnitte hängte er zu langen Sequenzen zusammen, in denen man ausschließlich Menschen
sah, die sich kratzten, ohne dass ihnen das selbst wohl auffiel.
Die Perlen seiner Sammlung nannte er die Präsidentensuite, dort war etwa die deutsche Bundeskanzlerin zu sehen, wie sie eine Mappe auf den Tisch stellte und sich dann an den Kopf griff, und was für andere ein Zurechtrücken der Frisur war, erkannte Markus untrüglich als blitzartige Befriedigung eines Juckreizes. Auch die englische Königin kam darin vor, wie sie sich, nachdem sie sich an einem Pferderennen geschneuzt hatte, noch schnell mit dem Zeigefinger unter der Nase rieb. Selbst den Papst hatte er dabei erwischt, wie er mit den zum Gebet gefalteten Händen seine andächtig geneigte Stirn kurz massierte. Durch die häufige Haltung bei Pressekonferenzen, wo hochrangige Politiker in Erwartung der Fragen ihre gekreuzten Hände unter das Kinn schoben, ließ sich Markus nicht täuschen. Der israelische Ministerpräsident und der französische Staatspräsident kratzten sich vor der Antwort noch rasch oberhalb der Lippen oder am Wangenknochen, und politische Niederlagen waren, wie z. B. beim amerikanischen Präsidenten vor dem Kongress, oft daran zu erkennen, dass drei Finger, mit denen der Unterlegene sein vorgebeugtes Haupt stützte, ganz kurz die Kopfhaut kraulten, für Markus ein klares Zeichen von Pruritus sine materia. Wenn es eine materia gab, dann eben das Ergebnis der Abstimmung.
Er kam mehr und mehr zur Ansicht, dass der grundlose Juckreiz eine verdeckte Krankheit unserer Zeit sei, und was immer ihre Ursache war, sie war ansteckend und epidemisch. Vergeblich suchte er die Fachliteratur nach
einem Hinweis auf ein mögliches Juckvirus ab, von dessen Existenz er überzeugt war. Dieses Virus, so stellte er sich vor, verursachte etwas wie Insektenstiche von innen, welche Histamine an die Oberfläche schickten. Die Erwähnung der Spiegelneuronen als Grund für die ansteckende Wirkung des Kratzens, also für eine Verhaltensnachahmung ähnlich wie beim Gähnen, genügte ihm nicht. Er glaubte an eine übertragbare Krankheit, er nannte sie Juckpest, und er sah sich selbst als gefährlichen Träger davon. Das Kratzen der Kolleginnen und Kollegen in der Sitzung musste nicht zuletzt damit zu tun haben, dass er das Juckvirus mit sich herumtrug.
Er wurde sparsamer mit Berührungen, hob lieber die Hand zum Gruß, als dass er sie zum Drücken ausstreckte, hörte auf, die Frauen freundschaftlich zu küssen, verweigerte sogar seiner Mutter einen Wangenkuss, der zwischen ihnen bei Begrüßung und Abschied üblich war. Der Weg zum Sonderling war geöffnet.
Und jetzt?
Jetzt zieht er eine Mappe mit Fotos hervor, legt sie auf den Tisch und macht sie auf. Zuoberst schaut ihm ein Skispringer entgegen, der nach einer langen Strecke der Erfolglosigkeit wieder zu siegen begann und sich lachend an den Hinterkopf greift, eine Bewegung, deren wirkliches Motiv
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