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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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Uraufführung angenommen worden.
    Sonst aber blieb alles beim Alten.
    5
    Ich zögerte einen Moment, als ich bei einem meiner Spaziergänge in der Nähe eines alten, verfallenen Turms einen kleinen gelben Bleistiftstummel auf einem gepflasterten Weg liegen sah. Er war ziemlich verschmutzt, und es konnte gut sein, dass der Rest seiner Mine gebrochen war.
    Doch meine Liebe zu Bleistiften siegte.
    Ich las den Stummel auf, nahm ihn mit nach Hause, wusch ihn, und wie die Gewinn-Nummer eines Loses erschien unter der Dreckkruste die Nummer 2, mit der ich am liebsten schreibe. Ich spitzte ihn, ohne dass die Mine abbrach, steckte den Stummel in einen roten Bleistiftverlängerer, begann den ersten Satz einer Ansprache zu schreiben, die ich nächstens zu halten hatte, und freute mich, wie gut der Stift ansprach und wie gut meine Gedanken in Fluss kamen.
    Seither beginne ich alle meine Entwürfe mit dem gelben Bleistiftstummel, der langsam kleiner wird, und sehe mit einer gewissen Bange dem Moment entgegen, da ich ihn nicht mehr weiter spitzen kann.
    Man trifft mich wieder vermehrt auf Spaziergängen, den Blick eher auf den Boden als in die Ferne gerichtet.
    6
    Bleistiften kann ich schwer widerstehen.
    Wenn sie an einem Werbestand zum Mitnehmen aufliegen, stecke ich immer einen ein; auch in Hotelzimmern sind manchmal welche neben einem Notizblock beim Telefon bereit, und egal, wie schlecht sie sein mögen, ich nehme sie mit.
    Enthält so ein Bleistift nicht, sage ich mir, Hunderte von Wörtern, Geschichten gar, die er mir preisgibt, wenn ich ihn in die Hand nehme und mit einem leeren Blatt Papier herausfordere?
    So musste ich auch den kleinen gelben Bleistiftstummel auflesen, den ich bei einem Spaziergang auf dem gepflasterten Weg in der Nähe eines alten, verfallenen Turmes erblickte. Doch als ich ihn in die Hand nahm, um ihn kurz mit einem Papiertaschentuch zu reinigen, fiel seine Holzummantelung auseinander und gab eine mehrfach gebrochene Mine frei, die offensichtlich zu nichts mehr zu gebrauchen war, und so ließ ich die Bleistifttrümmer wieder fallen und ging weiter.
    Woher kam mein ungutes Gefühl, mit dem ich noch eine ganze Weile kämpfen musste? Als hätte ich soeben einen Verletzten im Stich gelassen?
    7
    Als ich während eines Spaziergangs auf einem gepflasterten Weg in der Nähe eines alten, verfallenen Turms einen kleinen gelben Bleistiftstummel liegen sah, bückte ich mich, um ihn aufzulesen.
    Doch dann hielt ich inne.
    »Ein Bleistiftstummel?«, dachte ich, »im Ernst, was soll ich mit einem Bleistiftstummel?«
    Ich richtete mich wieder auf und ging weiter.
    In der Ferne war, wie ein Abbild des Himmels, das Meer vor der ligurischen Küste zu sehen.

Juckreiz
    D a sitzt einer.
    Da sitzt einer an seinem Tisch und liest eine Zeitungsbeilage.
    Sie ist betitelt mit »Nachhaltigkeit«, enthält verschiedene Artikel über Energie, und er hat sie sich zur Seite gelegt, um sie am Wochenende in Ruhe studieren zu können. Häufig liest er Zeitungen nur flüchtig, zieht sich aber längere Artikel oder Beilagen, welche ihn interessieren, heraus, um sie später zu lesen. Er legt sie auf einen kleinen Stapel, der auch aus Wochenzeitschriften und Bulletins von Organisationen besteht, die er unterstützt oder die um seine Gunst werben. Allerdings hat er schon länger die Erfahrung gemacht, dass er nie alles lesen kann, was sich dort anhäuft, und alle paar Wochen muss er den Turm aus Welthunger, Walfischen, Solarenergie, Islamismus, Demenzprophylaxe und multikultureller Erziehung wieder abbauen, wobei er gewöhnlich den unteren Teil hervorzieht, damit zum Zeitungshalter geht und, bevor er ihn aufs Altpapier schichtet, am Boden kniend, im schlechten Licht in der Ecke des Korridors noch den einen oder andern Artikel überfliegt, im schlimmsten Fall sogar einen davon rettet und ihn aufseufzend wieder zum verbleibenden Stapel zurückträgt.
    Nun liest er also in einem Bericht über Einsparungen
einer Klinik an Energie und Wasser, wie wichtig die Anpassungen von Heizkennlinien und Solltemperatur an der Heizungsanlage seien. An dieser Stelle hebt er, ohne die Zeitung loszulassen, die linke Hand, um sich mit dem Rücken des Zeigefingers kurz die Nasenspitze zu reiben. 14% Verbrauch und somit auch Kosten, liest er weiter, seien durch richtiges Energiedatenmanagement eingespart worden. Er hält einen Moment inne und merkt, dass er vorhin ein Wort überlesen hat, das ihm nicht vertraut ist. Er lässt die rechte Zeitungsseite los, schreibt

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