Der gelbe Tod
wenden«, warf ich ein.
Er fuhr mit dem Daumen über seine gestutzten Ohren und rückte den wächsernen Ersatz zurecht. »Das glaube ich nicht«, murmelte er nachdenklich. »Ich muß nur selten von der Peitsche Gebrauch machen, und dann auch nur einmal. Abgesehen davon lieben sie ihren Lohn.«
»Auf welche Weise machen Sie Gebrauch von der Peitsche?« fragte ich.
Einen Augenblick lang war sein Gesicht furchtbar anzusehen. Seine Augen verengten sich zu grünen Funken.
»Ich lade sie ein, ein wenig mit mir zu plaudern«, sagte er mit sanfter Stimme.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn, und sein Gesicht nahm wieder seinen liebenswürdigen Ausdruck an.
»Wer ist da?« fragte er.
»Mr. Steylette«, war die Antwort.
»Kommen Sie morgen«, erwiderte Mr. Wilde.
»Unmöglich«, begann der andere, wurde aber durch ein Bellen von Mr. Wilde zum Schweigen gebracht.
»Kommen Sie morgen«, wiederholte er.
Wir hörten, wie sich jemand von der Tür entfernte und am Treppenabgang um die Ecke bog.
»Wer ist das?« fragte ich.
»Arnold Steylette, Eigentümer und Chefredakteur des großen New York Daily.«
Er trommelte mit seiner fingerlosen Hand auf das Buch und fügte hinzu: »Ich bezahle ihn sehr schlecht, aber er glaubt, daß er ein gutes Geschäft macht.«
»Arnold Steylette!« wiederholte ich erstaunt.
»Ja«, sagte Mr. Wilde mit einem selbstzufriedenen Hüsteln.
Die Katze, die, während er sprach, wieder ins Zimmer gekommen war, zögerte, sah ihn an und fauchte. Er kletterte von seinem Stuhl, kauerte sich auf den Boden, nahm das Geschöpf in den Arm und streichelte es. Die Katze hörte auf, zu fauchen, und kurz darauf ließ sich ein lautes Schnurren vernehmen, das einen immer volleren Ton anzunehmen schien, als er über ihr Fell strich.
»Wo sind die Aufzeichnungen?« fragte ich. Er deutete auf den Tisch, und zum hundertsten Mal nahm ich den Manuskriptstoß mit dem Titel
›DIE HERRSCHERDYNASTIE VON AMERIKA‹
zur Hand.
Ich studierte die abgenutzten Seiten eine nach der anderen, abgenutzt nur von mir selbst, und obwohl ich alles auswendig wußte, las ich es vom Anfang »Als von Carcosa die Hyaden, Hastur und Aldebaran«, bis »Castaigne, Louis de Calvados, geboren am 19. Dezember 1877«, mit gieriger, gespannter Aufmerksamkeit und hielt nur inne, um Teile daraus laut zu wiederholen. Besonders lange verweilte ich bei »Hildred de Calvados, einziger Sohn von Hildred Castaigne und Edythe Landes Castaigne, erster in der Erbolge«, usw.
Als ich es beendet hatte, nickte Mr. Wilde und hustete.
»Um auf Ihren berechtigten Ehrgeiz zu kommen«, sagte er, »was tut sich bei Constance und Louis?«
»Sie liebt ihn«, erwiderte ich einfach.
Die Katze auf seinen Knien schnellte plötzlich herum und hieb nach seinen Augen, und er schleuderte sie von sich und kletterte auf den Stuhl mir gegenüber.
»Und Dr. Archer! Aber das ist eine Angelegenheit, die Sie zu jeder beliebigen Zeit in Ordnung bringen können«, fügte er hinzu.
»Ja«, erwiderte ich, »Dr. Archer kann warten, aber es ist an der Zeit, daß ich mich um meinen Vetter Louis kümmere.«
»Es ist an der Zeit«, wiederholte er. Dann nahm er ein anderes Buch vom Tisch und überflog eilig die Seiten.
»Wir haben jetzt Verbindung zu zehntausend Mann«, murmelte er. »Wir können innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden auf hunderttausend zählen, und in achtundvierzig Stunden werden sich die Massen im Staat erheben. Das Land folgt dem Staat, und der Teil, der es nicht tut, ich meine damit Kalifornien und den Nordwesten, wäre besser niemals bewohnt gewesen. Ich werde ihnen das Gelbe Zeichen nicht schicken.«
Mir stieg das Blut zu Kopf, aber ich antwortete nur: »Neue Besen kehren gut.«
»Der Ehrgeiz von Caesar und Napoleon verblaßt neben dem, der keine Ruhe finden konnte, bevor er nicht Besitz ergriffen hatte vom Verstand der Menschen und selbst ihre ungeborenen Gedanken beherrschte«, sagte Mr. Wilde.
»Sie sprechen vom König in Gelb«, stöhnte ich erschaudernd.
»Er ist ein König, dem Kaiser gedient haben.«
»Ich bin zufrieden, daß ich ihm diene«, erwiderte ich.
Mr. Wilde saß da und rieb sich die Ohren mit seiner verkrüppelten Hand. »Vielleicht liebt Constance ihn nicht«, gab er zu bedenken.
Ich wollte antworten, aber der plötzliche Lärm von Militärmusik, der von der Straße herauf drang, erstickte meine Stimme. Das zwanzigste Dragonerregiment, früher in der Garnison am St.-Vincent-Berg stationiert, kehrte von seinen
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