Der gestohlene Abend
habt ihr sonst noch besprochen?« »Ich habe ihr gesagt, was in Brüssel passiert ist.« »Das weiß sie sowieso.«
»Ja. Von dir. Aber nicht von mir. Ich wollte ihr persönlich erklären, warum ich so gehandelt habe und dass es nicht meine Absicht war, sie unter Druck zu setzen.« Sie atmete tief durch. »Wie naiv du doch bist.«
»Ich will mit dir reden, nicht mit dir streiten.«
»Wir werden immer nur streiten, Matthew. Deshalb ist es ja sinnlos, dass wir miteinander sprechen.«
Im oberen Stockwerk hatte sich eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Kurzzeitig war Musik zu hören gewesen.
»Was hast du eigentlich von mir gewollt? Hast du einen Typen zum Vögeln gesucht, um dich von den lästigen Diskussionen mit David abzulenken?«
»Jedenfalls keine zweite Ausgabe von ihm. Du hast auch nicht sein geistiges Kaliber, Matthew. Tut mir leid.«
»Du hast die ganze Zeit Bescheid gewusst, nicht wahr? Du warst die Einzige, der er etwas erzählt hat.«
Sie antwortete lange nicht. Dann sagte sie:
»Warum bist du hergekommen, Matthew? Ich will diese Diskussionen nicht alle noch einmal führen. Ich kenne alle deine Gedanken. David hat sie alle schon einmal gedacht.«
Sie griff in die Tasche ihres Sweaters und holte eine Schachtel Zigaretten heraus.
»Willst du auch eine?«, fragte sie. Ich stand vom Sofa auf, zog eine Zigarette aus dem Päckchen, das sie mir entgegenhielt, nahm die Racket-Ball-Schläger von einem der Stühle und setzte mich an den Tisch. Janine zündete ihre Zigarette an und schob mir das Feuerzeug hin.
»Ich habe mich oft gefragt, warum er sich am Ende ausgerechnet für dich interessiert hat. Weil wir beide etwas miteinander hatten? Oder weil Du eine Art Außenseiter warst, der nirgendwo dazugehörte? Was meinst du?«
»Ich glaube, er war eifersüchtig. Und ziemlich allein.«
»Meinst du? Ich denke eher, dass er Spaß daran fand, mich mit dir zu ärgern, dich auf seine Seite zu ziehen und deinen detektivischen Spürsinn zu reizen. Habt ihr damals nicht über Kleist geredet? Über die verheerenden Folgen von Misstrauen und Verdacht? Damit kannte er sich aus. Du warst nur sein Opfer, Matthew, sein unfreiwilliger, überforderter Wiedergänger, sonst nichts.«
»Das hast du schon einmal gesagt.« Sie blickte vor sich auf das Tischtuch. Wir rauchten. Manchmal konnte man das Meer hören, wenn eine besonders starke Welle auf dem Strand aufschlug.
»Ich war die Einzige, der er seinen Fund gezeigt hat«, sagte sie nach einer Weile. »Er hat mir die Artikel auszugsweise vorgelesen, mit glänzenden Augen, wie berauscht. Ich war so fassungslos und geschockt wie jeder, der diese Passagen zum ersten Mal liest. Und ich habe versucht, De Vander zu verstehen. David wollte nicht verstehen. Er wollte verurteilen. Er hatte von Beginn an eine Entscheidung getroffen. Er hatte De Vander sein Vertrauen entzogen.« »Wundert dich das?«, fragte ich.
»Ja. De Vander war sein Lehrer gewesen. Alles Lesen ist ein Verlesen. Diese Grundeinsicht hatte David doch immer verteidigt. Und jetzt, da er auf Spuren der persönlichen Tragödie gestoßen war, die De Vander zu dieser Einsicht geführt haben musste, da wollte er davon plötzlich nichts mehr wissen? Für mich war klar gewesen, dass es im Leben dieses Menschen einen absoluten Bruch gegeben haben musste, ein abgrundtiefes Erschrecken über das eigene Denken, das ein völlig neues erzeugt hat. Für David war es genau umgekehrt. Er wollte einfach nicht wahrhaben, wo dieses neue Denken herkam: aus der schrecklichen Erfahrung, dass alle sogenannten Wahrheiten unserer Zivilisation die Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur nicht verhindert, sondern mit verursacht haben.«
»Welche Wahrheiten, bitte?«
»Alle. Das gesamte westliche Denken. Nach Auschwitz sind keine Gedichte mehr möglich. Hat das nicht einer eurer Philosophen gesagt? Das gilt ja dann wohl auch für das Reden über Gedichte, für Literaturwissenschaft und Philosophie. Nur ein radikaler Bruch mit den Denk- und Sprechweisen, die zu Auschwitz geführt haben, kann vielleicht verhindern, dass wir dieselbe Barbarei noch einmal erleben. David hat es nicht ertragen, dass De Vander seine Medizin ausgerechnet im europäischen Faschismus destilliert hat. Dabei war damals die halbe zivilisierte Welt darin gefangen. David ließ nicht einmal die Möglichkeit zu, dass De Vander durch die Erfahrungen, die er als Zwanzigjähriger gemacht hatte, sich völlig geändert haben könnte. Für ihn war plötzlich
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