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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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1. Kapitel
    Auf dem Richtertisch standen rote Rosen. Sie sahen aus wie Blutspritzer.
    Der Richter war ein alter Mann; so alt, daß man meinen sollte, er habe Zeit und Wandel und Tod überlebt. Sein Papageiengesicht und seine Papageienstimme waren trocken, wie seine alten, dickgeäderten Hände. Das Purpur seines Talars biß sich schmerzhaft mit dem Blutrot der Rosen. Drei Tage saß er nun schon in diesem muffigen Gerichtssaal und ließ noch immer kein Anzeichen von Müdigkeit erkennen.
    Er sah die Angeklagte nicht an, als er seine Aufzeichnungen säuberlich aufeinanderlegte und sich an die Geschworenenbank wandte, aber die Angeklagte sah ihn an. Ihre Augen, dunkle Flecken unter den dichten, eckigen Brauen, blickten ebenso ohne Furcht wie ohne Hoffnung. Sie warteten.
    »Meine Damen und Herren Geschworenen –«
    Die geduldigen alten Augen schienen sie alle auf einmal zu begutachten, wie um die Summe ihrer Intelligenz zu erfassen. Drei biedere Gewerbetreibende – ein großer, redseliger, ein untersetzter, verlegener mit hängendem Schnurrbart und ein trauriger mit einer bösen Erkältung; ein Direktor einer großen Firma, der seiner kostbaren Zeit nachtrauerte; ein unpassend gutgelaunter Wirt; zwei jüngere Männer aus dem Handwerkerstand; ein unscheinbarer älterer Mann, der gebildet wirkte und alles mögliche sein mochte; ein Künstler mit rotem Bart, unter dem sich ein fliehendes Kinn verbarg; drei Frauen – eine alte Jungfer, eine robuste, tüchtige Besitzerin eines Süßwarenladens und eine gehetzte Hausfrau und Mutter, deren Gedanken unentwegt zu ihrem verwaisten Herd zurückzuirren schienen.
    »Meine Damen und Herren Geschworenen, Sie sind mit großer Geduld und Aufmerksamkeit der Beweisaufnahme in diesem sehr erschütternden Prozeß gefolgt, und nun ist es meine Pflicht, die Tatsachen und Argumente, die Ihnen der Anwalt der Krone sowie der Herr Verteidiger vorgetragen haben, zusammenzufassen und so klar wie möglich zu ordnen, um Ihnen die Entscheidung, die Sie fällen müssen, zu erleichtern.
    Zuerst aber sollte ich wohl noch ein paar Worte zu dieser Entscheidung selbst sagen. Sie wissen sicher, daß nach einem ehernen Grundsatz des englischen Rechts jeder Angeklagte als unschuldig zu gelten hat, solange ihm keine Schuld nachgewiesen wurde. Er oder sie braucht seine oder ihre Unschuld nicht zu beweisen. Es ist vielmehr Sache der Krone, die Schuld zu beweisen, und solange Sie nicht vollkommen überzeugt sind, daß dies der Anklage jenseits allen vernünftigen Zweifels gelungen ist, haben Sie die Pflicht, auf ›Nicht schuldig‹ zu erkennen. Das muß nicht heißen, daß es der Angeklagten gelungen sei, ihre Unschuld zu beweisen; es bedeutet nur, daß der Ankläger es nicht vermocht hat, Sie restlos von ihrer Schuld zu überzeugen.«
    Salcombe Hardy wandte kurz die veilchenblauen Augen vom Notizblock, kritzelte zwei Worte auf einen Zettel und schob ihn seinem Reporterkollegen Waffles Newton zu.
    »Richter übelgesinnt.« Waffles nickte. Sie waren zwei alte Hunde auf dieser Blutspur.
    Der Richter krächzte weiter.
    »Sie möchten vielleicht auch von mir hören, was mit den Worten ›vernünftiger Zweifel‹ genau gemeint ist. Sie bedeuten nicht mehr und nicht weniger Zweifel, als Sie in einer ganz alltäglichen Situation haben würden. Es handelt sich hier zwar um einen Mordfall, und es wäre nur natürlich, wenn Sie glaubten, in so einem Fall müsse man mehr hinter diesen Worten vermuten, aber das ist nicht so. Keineswegs sollen Sie hier krampfhaft nach phantastischen Erklärungen für etwas suchen, was Ihnen klar und einfach erscheint. Gemeint sind nicht jene alptraumhaften Zweifel, wie sie uns manchmal quälen, wenn wir um vier Uhr morgens aus unruhigem Schlaf erwachen. Gemeint ist nur, daß die Beweise so überzeugend sein müssen, wie Sie es zum Beispiel bei einem Geschäftsabschluß oder einer sonstigen alltäglichen Besorgung verlangen würden. Sie dürfen ebensowenig Ihre Gutgläubigkeit zugunsten der Angeklagten strapazieren, wie Sie natürlich umgekehrt auch keinen Beweis für ihre Schuld akzeptieren dürfen, ohne ihn sorgfältig geprüft zu haben.
    Nachdem ich diese wenigen Worte vorausgeschickt habe, damit Sie sich nicht erdrückt fühlen unter der schweren Verantwortung, die Ihre staatsbürgerliche Pflicht Ihnen auferlegt, will ich nun von vorn beginnen und versuchen, die Geschichte, die wir gehört haben, so klar wie möglich vor Ihnen auszubreiten.
    Die Krone bezichtigt die Angeklagte, Harriet

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