Der Gipfel
für ihre Familie auf und bedeckte ihren kleinen Körper mit Steinen. Als Markierung hinterließ ich zwei Pickel, die ich in den Felsen in der Nähe fand. Neben meiner tiefen Trauer über die Verluste waren diese kleinen Gesten der Ehrerbietung das einzige, was ich für ihre und Scotts Familie tun konnte.
Unwillkürlich mußte ich daran denken, wie bereitwillig Iwan, Asmujiono und Misirin dem Tod ins Auge geblickt hatten. Ich dachte aber auch daran, wie die Familien, die hier jemanden verloren haben, den Verlust verschmerzen müssen. Ich weiß, daß dieser Gipfelsieg weitere unerfahrene Menschen in die Berge locken wird. Und ich wünschte mir sehr, ich wüßte eine andere Möglichkeit, meinen Unterhalt zu verdienen. Mich locken noch viele Ziele in den Bergen, da ich wie jeder Sportler die Grenzen meiner Belastbarkeit kennenlernen möchte. Für mich ist es zu spät, einen anderen Weg zur Finanzierung meiner persönlichen Ziele zu finden. Und doch habe ich große Vorbehalte, im Rahmen meiner Tätigkeit unerfahrenen Menschen Zutritt zur Bergwelt zu verschaffen.
Ich werde nicht gern Führer genannt, denn ich nehme ungern die schreckliche Verantwortung auf mich, zwischen dem Ehrgeiz eines Menschen oder seinem Leben entscheiden zu müssen, jeder Mensch trägt selbst die Verantwortung, ob er sein Leben aufs Spiel setzt oder nicht. Die Unterscheidung zwischen »Führer« und »Berater« stößt sicher vielfach auf Spott, doch ist es die einzige Form von Protest, die ich gegen eine Erfolgsgarantie bei Bergbesteigungen einlegen kann. Ich kann Trainer und Berater sein und als Rettungseinsatzleiter tätig werden. Aber ich kann weder Erfolg noch Sicherheit garantieren, da natürliche Umstände und körperliches Versagen in extremer Höhe sehr komplexe Faktoren sind. Ich selbst habe mich damit abgefunden, daß ich in den Bergen ums Leben kommen kann.
Misirin, Asmujiono, Iwan, Apa, Dawa, Bashkirov, Vinogradski und ich stiegen ab und gaben uns der Siegesfreude hin. Viele einzelne hatten Anteil an unserem Erfolg, vor allem aber war das Glück auf unserer Seite. Die indonesische Expedition fand ein Ende, das sich nicht schmerzlich in mein Herz eingebrannt hat.
41 Ende Oktober 1996, nach der Besteigung des Shisha Pangma, fuhr Boukreev im Bus eines kasachischen Kletterteams von Taschkent in seinen Heimatort Alma Ata. Während der Nachtfahrt schlief der Fahrer offenbar am Steuer ein, und der Bus streifte einen Laster. Die linke Seite, auf der Boukreev saß, wurde weggerissen. Der Fahrer verlor seinen linken Arm, ein junger kasachischer Bergsteiger, der direkt vor Boukreev saß, wurde regelrecht enthauptet.
42 Wegen schlechter Witterungsbedingungen wurde der Plan eines Auf stiegs von Norden her aufgegeben.
43 Boukreev hatte den Leichnam Bruce Harrods entdeckt, eines seit 1996 verschollenen Mitglieds der südafrikanischen Johannesburg Sunday Times Expedition.
Postskriptum
Nach ihrem Everest-Erfolg kehrten die Indonesier und Bou kreev mit den anderen russischen Alpin-Beratern nach Kathmandu zurück, um eine Party zu feiern und alles Ge schäftliche zu regeln. Nachdem die Zusammenarbeit mit den Indonesiern beendet war, flogen Boukreev und ein Freund Mitte Mai wieder nach Lukla und begannen einen Treck zum Everest-Basislager, wo Boukreev die Berg- und Wetterverhältnisse für eine mögliche Everest-Lhotse-Traverse erkunden wollte: eine Besteigung des Lhotse mit anschließender Überschreitung zum Everest-Gipfel.
Auf dem Treckingpfad kurz hinter Namche Bazaar, wo der Weg sich über steil abfallende, mit einem Teppich blühender Rhododendronsträucher bedeckte Hänge in die Schlucht des Dudh Kosi hinunterwindet, traf Boukreev auf Dr. Ingrid Hunt. Sie war in den Himalaja gekommen, um eine Gedenktafel für Scott Fischer anzubringen. In dem kurzen Gespräch mit Bou kreev erklärte sie mit Tränen in den Augen, sie würde niemals wieder in den Himalaja zurückkehren.
Boukreev verabschiedete sich von ihr und setzte den Weg zum Everest fort, nicht ohne jeden Entgegenkommenden genau zu mustern. Er hoffte, Teilnehmer einer japanischen Expedition zu treffen, die vom Basislager und vom Everest zurückkamen. Boukreev hatte in Kathmandu Amulette und persönliche Habseligkeiten zurückgelassen, die er in der Nähe von Yasuko Nambas Leichnam gefunden hatte, nachdem er die Japanerin unter einem steinernen Totenmal bestattet hatte. Er wollte ihrem Mann in Japan diese Gegenstände zukommen lassen.
Nach einer Nacht in Pangpoche brachen
Weitere Kostenlose Bücher