Der Gipfel
aber ungewöhnlich hoch lag, hatte ich kein Risiko eingehen wollen und auch diesen Abschnitt für den Abstieg sichern lassen. Wieder einmal zeigte es sich, daß man sich auf dem Berg innerhalb sehr enggesteckter Grenzen bewegt. Was sich unten höchstens als Hauch einer Schwierigkeit abzeichnet, kann sich am Gipfeltag zum alles überschattenden Problem auswachsen, das über Erfolg oder Mißerfolg entscheidet. Man kann in einer solchen Situation toben und mit dem Schicksal hadern, oder man kann versuchen, das Problem zu meistern. Die zahlreichen Gespräche, in denen man mir versicherte, daß alle meine Forderungen hinsichtlich der Ausrüstung erfüllt würden, waren sinnlos gewesen.
Apa bot an, abzusteigen und das Seil zu holen. Nun kam der Zeitfaktor ins Spiel. Die Uhr tickte, wir mußten weitergehen oder abstei gen. Apa, der wußte, daß ihm ein Fehler unterlaufen war, der den gesamten Erfolg unserer Expedition in Frage stellte, zeigte Rückgrat. Er ging voraus und versicherte die Strecke mit unseren letzten vierzig Metern Seil und alten, von früheren Expeditionen vorhandenen Seilresten. Ich war froh über die Ruhepause, nach der ich mich merklich besser und kräftiger fühlte.
Als Dawa uns einholte, erfuhren wir, daß auf 8500 Meter Höhe für uns nun tatsächlich zusätzlicher Sauerstoff und ein Zelt bereit standen. Apa hatte die Seile bis zum oberen Ende des Hillary Step zusammengestückelt. Unsere Gruppe war gut in Form. Es war knapp nach zwölf Uhr dreißig, als Apa den Hillary Step hinter sich hatte. Das Wetter hielt. Das Notlager war gesichert. Bashkirov, Vinogradski und ich entschieden uns für den Gipfelaufstieg, obwohl wir sehr spät, erst gegen fünfzehn Uhr, ans Ziel kommen würden.
Misirin kam langsam und ohne Hilfe voran. Asmujiono bewegte sich gut, wirkte aber wie jemand, dessen Bewußtsein irgendwo tief in sein Inneres abgesunken ist. Auch Iwan war langsam, und er ließ erkennen, daß seine Koordination nachließ, obwohl mental bei ihm alles in Ordnung war. Misirin machte von allen den besten Ein druck, so daß wir ihm die größten Gipfelchancen gaben. Bei allen dreien war die Entschlossenheit noch ungebrochen; die Chance, auf den Gipfel zu kommen, wollte sich keiner entgehen lassen. Ich hätte es vorgezogen, mit einem einzigen weiterzugehen und die anderen umkehren zu lassen, ließ mich aber überreden, diese große Entscheidung bis zum oberen Ende des Hillary Step zu verschieben. Da ich spürte, daß Asmujionos geistige Leistungsfähigkeit nachließ und ich ihn unter ständiger ärztlicher Beobachtung haben wollte, teilte ich ihn Dr. Vinogradski zu.
Bashkirov und Misirin gingen als erste, dann kamen Iwan und ich, während Asmujiono und Dr. Vinogradski den Schluß bildeten. Der Grat präsentierte sich im Unterschied zum Vorjahr ganz anders, nämlich viel steiler und mit mehr Schnee. Iwan kam nur ganz langsam voran. An einer Stelle strauchelte er und fing sich gerade noch am alten Fixseil. Als ich ihm nun den sachgerechten Einsatz des Eispickels am Grat zeigte, wurde deutlich, daß ich es mit jemandem zu tun hatte, der vor vier Monaten zum erstenmal im Leben Schnee gesehen hatte. Bei guter Seilsicherung – mit der wir gerechnet hatten – hätte man auf dem gespurten Grat keinen Pickel benötigt. Jetzt aber mußte ich diesem beherzten und entschlossenen jungen Mann beibringen, wie man sich damit zurück auf die Route kämpft. Wieder einmal fragte ich mich, was dieses Erlebnis für die Indonesier bedeutete. Als Sportler hätte ich für einen Gipfelsieg nie ein Menschenleben aufs Spiel gesetzt, aber diese Soldaten, die völlig anders gepolt waren, stellten den Erfolg über ihr Leben.
Nachdem Iwan sich auf den Grat zurückgekämpft hatte – eine Situation, die meine ganze Aufmerksamkeit erforderte – , stiegen wir langsam weiter den Grat entlang, und ich erreichte den Fuß des Hillary Step. Hier stieß ich auf einen Toten 43 . Er lag in die Seile verwickelt da, die Steigeisen in Aufstiegsstellung vor der Bewältigung dieses letzten, technisch schwierigen Teils der Route. Seine Gesichtszüge waren unkenntlich. Die Bedingungen in dieser Höhe sind so hart, daß ich mit Sicherheit nur feststellen konnte, daß er einen blauen Daunenanzug anhatte. Mehr Aufmerksamkeit konnten ich und die anderen unserer Gruppe ihm nicht widmen, ein Umstand, den ich sehr bedauere, da den Toten Respekt gebührt. Meine Aufgabe aber war es, das flackernde Lebenslicht der drei Indonesier zu hüten, und unsere Situation
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