Der Goldschmied
waren sie am Ziel.
Ein hohes Haus mit einem spitzen Dach. Vor langer Zeit musste es ein stattliches Gebäude gewesen sein. Jetzt begann es bereits zu verfallen. Das Dach war schief und schadhaft.
Hier lebte Peter Fallen. Einst war er ein bekannter und geehrter Gold- und Zirkelschmied gewesen, Großmeister im Rat der Stadtzünfte wie auch Mitglied in der Ehrwürdigen Bruderschaft der Hall-Marks zu Londinium. Aber das war lange her. Ein Unheil hatte aus dem wohlhabenden und geachteten Mann ein zerstörtes Menschenkind gemacht. Ein Unheil, von dem niemand in der Gegend mit lauter Stimme sprach.
So hatte es zumindest die alte Bess erzählt. Sie, die alles wusste, was in dieser Stadt geschah. Trotzdem hatte sie Eyleen gedrängt, ihren Sohn zu dem alten Meister in die Lehre zu schicken. Ein anderes Haus würde ihn nicht aufnehmen und ausbilden. War der Junge doch von niedrigem Stand.
Faber aurifex! Die Vereinigung der Goldschmiede!
Ein gottgefälliges Handwerk.
Hoch geehrt die Mitglieder dieses Standes, wohlhabend und allenthalben sogar reich.
Eyleen hatte nie mehr in ihrem Leben besessen als das, was sie am Leibe trug. Sie stammte aus dem Armenhaus, heiratete den einfachen Köhler Bert Carlisle. Immer aber hatte sie geglaubt, wenn ihre Armut auch schwer war, sei dieses Los doch gottgefällig, so wie es der Bischof von London in der großen Predigt gesagt hatte. Zumal dies besser war als das sklavenähnliche Leben, das sie mit ihrer alten Mutter einst geführt hatte. Ein armseliges Leben, das Los der Unfreien. Mit Bert war sie zufrieden gewesen. Er war ein stiller Mann, nicht hässlich, und er hatte noch all seine Zähne. Er war fleißig, nahm jede Arbeit an, um sie und die beiden Knaben zu nähren. Bis er am Fieber starb. Hätte der fromme Mann sich der beiden Jungen nicht angenommen, wären sie sicher wie ihre Geschwister verhungert.
Jetzt stand sie hier. Sie zupfte noch einmal ihr Kleid zurecht und versteckte ein paar Haare unter der Haube.
»Heilige Mutter unseres Herrn, wie sehr ich schwitz’«, stöhnte sie leise.
Gwyn sah sie an und lächelte. Sie lächelte zurück und streichelte dem Jungen übers Haar. Immer schon hatte sie eine ganz besonders innige Beziehung zum Ältesten ihrer Kinder gehabt. Sie klopfte.
Eine ganze Weile geschah nichts. Dann war ein Geräusch hinter der Türe zu hören. Es klang wie langsame, schlurfende Schritte. Das Geräusch verstummte plötzlich, und es blieb still. So, als ob jemand hinter der Türe wartete, lauschend, ob der Besucher es noch einmal probieren und anklopfen würde. Aber mit einem Mal öffnete sich die Türe langsam.
Modrige, ungewöhnlich kühle Luft wehte ihnen entgegen. Gwyn wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Gestützt auf eine Holzkrücke, stand dort ein alter Mann. Ein dichter Bart versteckte den größten Teil seines Gesichtes. Die Kleidung war ärmlich und verschlissen. Der Mann wirkte müde und seine Erscheinung nachlässig.
»Gott der Herr schütze Euch, Faber«, murmelte Eyleen höflich.
Der Mann blickte die Frau und den Jungen an, so, als gelte der Gruß nicht ihm. Eyleen wusste nicht, ob er sie verstanden hatte. Konnte dies der einst so gerühmte Goldschmied Peter Fallen sein, so wie ihn die alte Bess beschrieben hatte? Dieser Mann sah eher aus wie einer der Bettler, die des Nachts unterhalb der Stadtmauern schliefen und an deren Leben oder Sterben niemand Anteil nahm.
»Ihr seid doch Peter Fallen, der Meister der Zunft?«, fragte sie vorsichtig.
Wieder betrachtete sie der Mann wortlos. Dann antwortete er plötzlich mit leiser Stimme. Es klang, als hätte er schon lange Zeit nicht mehr gesprochen. »Ja, der bin ich wohl. Oder sagt besser, was ein Leben von mir übrig ließ.« Der Mann hatte sich müde auf den Stock gestützt. Sein Blick verriet Misstrauen. »Was wollt Ihr von mir, Frau?«
»Bruder Humbert schickt mich …«
Jetzt schien er sich zu erinnern. Langsam humpelte er zurück in den engen feuchten Gang des Hauses. Eyleen und ihr Sohn folgten ihm. Gwyn bemerkte, wie trotz der Hitze die bloßen Wände schwitzten. Wie winzige Perlen hingen die feinen Wassertropfen an den Ziegelrändern, überall dort, wo sie der schützende Kalk nicht mehr bedeckte. Am Ende des Ganges öffnete Fallen eine Tür. Es war der Eingang zu einer kleinen Kammer. Darin stand ein rechteckiger Holzkasten an der Wand, kniehoch gefüllt mit Stroh: das Bett. Daneben ein niedriger Schemel. Unter einem kleinen Fenster stand ein schwerer Tisch. Darauf lagen ein
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