Valentina 3 - Geheimnisvolle Verführung: Roman (German Edition)
Tina
1989
Tina hält Valentinas Hand fest in ihrer. Die Hand ihrer kleinen Tochter fühlt sich angenehm kühl an, denn obwohl es ein bitterkalter Novembertag ist, treibt die Aufregung Hitzewellen durch Tinas Körper. In ihrer Handfläche hat sich ein Schweißfilm gebildet, und es kommt ihr vor, als würde sie mit der ihrer Tochter verschmelzen. Während sie sich gemeinsam an den vielen Menschen vorbeischlängeln, hat sie das Gefühl, eins mit ihrer Tochter zu sein. In der Menge sucht Tina nach Karel. Sie mochten sich zwar fünf Jahre nicht gesehen haben, doch sein unglaublich schönes Gesicht wird sie nie vergessen. Sie ist sicher, dass sie ihn finden wird.
Jetzt ist es endlich so weit, Tina kann es kaum noch erwarten. Sie sieht die Ostberliner über den Grenzübergang Bornholmer Straße strömen. Sie ist überzeugt, dass Karel unter ihnen ist. Hatten sie es sich nicht versprochen? Wenn die Mauer fiele, egal wann, egal wie, würde Tina auf ihn warten. Sie sollte sich fünf Tage nach Grenzöffnung um zwölf Uhr mittags an dem Grenzübergang einfinden, den man zuerst geöffnet hatte. Tina blickt auf ihre Armbanduhr. Es ist fünf Minuten vor zwölf, in wenigen Minuten wird Valentina ihren Vater kennenlernen.
Die letzten Tage waren ihr irgendwie surreal vorgekommen. Nie wird Tina vergessen, wie sie die Abendnachrichten eingeschaltet hat und auf einmal dieses Interview mit dem Journalisten der italienischen Presseagentur sah. Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, ausgefüllt mit Arbeit und ihren Mutterpflichten. Am Vormittag hatte sie Fotoaufnahmen für die Elle gemacht. Am Nachmittag war sie mit Valentina in den Park gegangen und hatte sie auf der Schaukel angestoßen, bis es zu kühl wurde. Auf dem Nachhauseweg hatte Tina etwas zu essen gekauft und vor der Wohnung ein paar Worte mit ihrer Nachbarin gewechselt. Während die Tomatensauce im Topf vor sich hin simmerte und Valentina am Wohnzimmertisch saß und malte, hatte Tina mit ihrem Sohn Mattia in Amerika telefoniert. Valentina war ein sehr unkompliziertes Kind, das nie viel Aufmerksamkeit forderte. Tina verabschiedete sich von Mattia und nahm die Sauce vom Herd. Sie hatte sich gerade auf einen Stuhl gesetzt und gelangweilt, an einem Glas Wein nippend ferngesehen, als das Programm plötzlich unterbrochen und ein Interview mit dem SED -Politbüromitglied Günter Schabowski gesendet wurde. Ein Journalist fragte aufgeregt, wann das neue Gesetz in Kraft träte, das allen DDR -Bürgern das Passieren der Grenzübergänge zwischen Ost- und Westdeutschland sowie Westberlin erlaube. Noch immer hallten Schabowskis Worte in ihrem Kopf nach:
Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.
Vor Schreck hatte Tina ihr Glas fallen lassen. Es zersplitterte auf dem Boden, und der Rotwein ergoss sich über den Teppich, wo er für immer einen Fleck hinterließ.
Unverzüglich .
Tina sprang vom Sofa auf, klatschte in die Hände und stieß einen leisen Schrei aus. Überrascht blickte Valentina von ihrer Zeichnung auf. Die Berliner Mauer fiel. Tina hatte recht gehabt. Sie hatte Karel gesagt, er solle die Hoffnung nicht aufgeben. Und jetzt würde er endlich frei sein. Nichts auf der Welt konnte sie daran hindern, in fünf Tagen an dieser Grenze zu stehen. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie Karel noch liebte. Bestimmt war er inzwischen mit einer anderen Frau zusammen, und das war gut so, sie hatte schließlich Phil. Sie fuhr nicht ihretwegen dorthin, sondern wegen ihrer Tochter. Das ist Valentinas einzige Chance, ihren leiblichen Vater kennenzulernen.
»Mir ist kalt, Mama.« Valentina zittert neben ihr.
»Jetzt dauert es nicht mehr lang, mein Schatz«, beruhigt Tina sie.
»Wo sind wir hier?«, jammert die Kleine. »Ich will nach Hause.«
Tina will Valentina erst von Karel erzählen, wenn er da ist. Sie will sie auf keinen Fall unnötig aufregen. Tina muss erst wissen, dass Karel Valentina noch immer kennenlernen will.
Sie geht auf den Grenzposten zu und beobachtet, wie die Ostberliner in Massen über die Brücke strömen. Die meisten wollen offenbar nur einen Tag auf der anderen Seite verbringen, den Westen kennenlernen, und dann wieder nach Hause zurückkehren. Aber andere kommen für immer, wanken mit großen Koffern heran oder schieben schwer bepackte Fahrräder neben sich her. Wieder andere haben ihren Trabant vollgeladen.
Tina sieht ihnen zu, während sie wartet und die Minuten verrinnen. Gegen halb eins fängt sie an zu zweifeln. Um eins ist Valentina
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