Der Gottesschrein
mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Die Symptome des Schatzsucherfiebers kenne ich genau: aufgeregtes Herzklopfen, zitternde Knie und eine fast ekstatische Euphorie. Sie ähneln denen der Verliebtheit.« Er küsst mich zärtlich.
Ungestüm erwidere ich seinen Kuss.
Benyamin rutscht den Abhang hinunter, schultert die Tasche mit unserer Ausrüstung und tritt neben uns. Unser verliebtes Getuschel scheint er taktvoll zu überhören. »Gehen wir?«
Wir folgen dem aus dem Fels gemeißelten Stollen, der nach wenigen Schritten nach links abbiegt.
»Die Baruch-Apokalypse beschreibt, wie ein Engel vom Himmel ins Allerheiligste herabstieg, um die Bundeslade, die Edelsteine, mit denen der Hohepriester geschmückt wurde, und den Tempelschatz zu verbergen«, flüstert Benyamin ergriffen. »Wir müssen unter dem Felsen Morija im Felsendom sein. Es kann nicht mehr weit sein.«
Vor uns erstreckt sich eine Treppe.
Mit jeder Stufe, die wir hinabsteigen, wird die Luft kühler.
Der Gang führt weiter geradeaus, in Richtung Westen.
Nach fünfundzwanzig Schritten endet der massive Fels. Der Korridor ist aus glatt behauenen Steinquadern gemauert. Wir befinden uns in der mit Geröll aufgefüllten Senke zwischen dem Felsen Morija, der nach Westen hin steil abfällt, und der massiven Stützmauer, die die Klagemauer bildet.
Sind diese Quader in der Höhle des Zedekia, in den Steinbrüchen Salomos, geschlagen worden? Gehört dieser Gang zu den Fundamenten von Salomos Tempel? Oder hat Herodes ihn gemeinsam mit den gewaltigen Stützmauern errichten lassen?
Der Gang endet in einer kleinen Kammer.
Verwirrt sieht Benyamin sich um. Sie ist leer.
Mein Blick fällt auf einen zerbrochenen Stein zu meinen Füßen. Ich bücke mich und hebe ihn auf.
Es ist eine babylonische Keilschrifttafel.
Verwundert starre ich die feinen keilförmigen Schriftzeichen darauf an. Sind die babylonischen Eroberer auf der Suche nach dem Tempelschatz ins Labyrinth eingedrungen? Haben sie die Bundeslade doch nach Babylon gebracht? Der verborgene Text der Templer in der Baruch-Apokalypse erwähnt den Gottesschrein ja nicht ausdrücklich …
Ich gebe Yared die Keilschrifttafel. Er betrachtet sie aufmerksam, doch er kann sie ebenso wenig lesen wie ich.
»Was nun?«, fragt Benyamin.
»›Niemand kann den Gral erreichen, den nicht der Himmel ausersehen, und daraufhin zum Gral beruft. Lapis ex coelis ist sein Name‹«, murmele ich und taste die Mauer der Kammer ab, vor der der Gang endet. Die Steine sind kleiner als die glatt behauenen Quader des Korridors und nicht durch Mörtel verbunden.
»Was ist?« Benyamin blickt mich verdutzt an.
»Es ist ein Vers aus Wolfram von Eschenbachs Parzival «, erklärt ihm Yared. »Tritt einen Schritt zurück!«
»Aber …«
»Die Templer hatten während der Belagerung durch Sultan Salah ad-Din nicht viel Zeit, diese Mauer aufzurichten. Sie sind sehr hastig vorgegangen. Die Keilschrifttafel, die vermutlich in der Schatzkammer gelegen hat, ist versehentlich hinausgelangt. Hätten die Templer genügend Zeit gehabt, hätten sie die Tontafel, die Sultan Salah ad-Din zum Versteck der Bundeslade führen konnte, mitgenommen«, erkläre ich, während sich Yared schwungvoll dagegenwirft.
Knirschend bewegt sich ein Stein.
»Was sollte Salah ad-Din mit der Bundeslade anfangen?«, fragt Benyamin, während er stirnrunzelnd Yared beobachtet, der sich an dem verrutschten Stein zu schaffen macht.
Ich wende mich zu ihm um. »Die Bundeslade sollte ein Zeichen seiner Herrschaft sein. In der zweiten Sure steht: ›Und ihr Prophet sprach zu ihnen: Seht, ein Zeichen seiner Königsherrschaft ist es, dass er die Bundeslade zu euch bringen wird, in der die Frieden verheißende Gegenwart eures Herrn ist. Die Engel werden sie tragen. Siehe, hierin ist wahrlich ein Zeichen für euch, sofern ihr Gläubige seid.‹
Salah ad-Din, erst einmal im Besitz der Lade, wäre Sultan von Gottes Gnaden. Mit Allahs Segen, der seine Herrschaft als Sultan des mächtigsten Reiches des Islam legitimiert, würde der ›Befreier des Islam‹ die Christen in einem Djihad vernichten. Denn in der neunten Sure steht geschrieben: ›Allah sandte seine Sakina, seine segensreiche Gegenwart, auf seinen Gesandten und auf die Gläubigen nieder und schickte Heerscharen herab, um die Ungläubigen zu bestrafen.‹
Einige muslimische Gelehrte glauben, die Lade werde dereinst durch den Mahdi gefunden werden, den von den Muslimen erwarteten endzeitlichen Propheten, den letzten
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