Der Gottesschrein
morgens
Tristão hat sich schnell wieder in der Gewalt. Ungestüm drängt er sich mir entgegen, packt mich an der Schulter, zieht meinen Dolch aus der Scheide, reißt mich mit Gewalt an sich und presst die scharfe Klinge an meine Kehle. Ich versuche, mich ihm zu entwinden – doch vergeblich! Trotz der Wunde an der linken Schulter, die ich ihm mit meinem Dolch beigebracht habe, ist er erstaunlich kraftvoll. Jeden Muskel bis zum Äußersten gespannt, presst er mich an sich.
Yared und Benyamin ziehen die Schwerter.
»Werft die Waffen weg! Oder sie stirbt!«, brüllt Tristão.
Yared zögert.
»Sofort!«
Die beiden Schwerter poltern auf den Boden. Yared sieht mich bleich an.
Meine Hand verkrampft sich um den kleinen Cherub aus Elfenbein und Gold, den ich vorhin aufgehoben habe. In der anderen Hand halte ich die Fackel.
Tristão weicht einen Schritt zurück, dann noch einen. Er will mit mir entkommen und mich dann unbehelligt von Benyamin und Yared töten!
Rückwärts gehend betritt er mit mir die Schatzkammer. Er kann nicht sehen, wohin er tritt, weil er Yared und Benyamin beobachtet, die uns langsam folgen. Tristão macht einen weiteren Schritt zurück und hat schon fast den aufgebrochenen Durchgang erreicht, als er auf eine der gewölbten Scherben des Alabasterkelches tritt, einen rasenden Herzschlag lang das Gleichgewicht verliert und taumelt.
In diesem Augenblick werfe ich mich mit aller Kraft gegen ihn, um ihn umzureißen, ducke mich unter der Klinge meines Dolches hindurch und stoße ihm den Flügel des Cherubs ins Gesicht. Die scharfkantige Spitze reißt die durch die Brandwunde entstellte rechte Seite seines Gesichtes auf. Er schreit vor Schmerz und Überraschung, stolpert rückwärts, lässt den Dolch fallen und reißt beide Hände hoch, um sich vor weiteren Schlägen gegen seine Augen und seine gebrochene Nase zu schützen.
»Va all’inferno, Satana!« Der Cherub zischt durch die Luft, der ausgebreitete Flügel bohrt sich in seine Halsschlagader. Blut spritzt aus der Wunde. Wie von Sinnen stoße ich die scharfkantige Schwinge noch tiefer in seinen Hals.
Schreiend vor Schmerz stößt Tristão mich zurück und presst beide Hände auf die blutsprudelnde Wunde. Vergeblich! Binnen weniger Augenblicke sinkt er auf die Knie, ringt röchelnd nach Atem und kippt schließlich vornüber in die Blutlache.
Er ist tot.
Ich knie nieder, ziehe den Cherub aus der Wunde und wische ihn an Tristãos Habit ab. Dann erhebe ich mich.
Yared umarmt mich und hält mich fest. Ich zittere am ganzen Körper und lehne mich erschöpft gegen ihn.
»O Gott, ich dachte, er tötet dich!«, flüstert er mit bebender Stimme und streicht mir über das Haar.
Nur langsam fällt die Anspannung von mir ab. Tränen rinnen mir über die Wangen. Yared küsst sie fort.
Benyamin tritt neben uns. »Die Lade ist zerstört«, murmelt er traurig. »So wie deine Hoffnung auf ein Königreich Israel.«
Yared nickt versonnen und legt ihm ermutigend die Hand auf die Schulter.
»Was nun?«
Yared blickt mich an. »Ich habe alles, was ich brauche, um glücklich zu sein. Ich habe einen anderen Schatz gefunden.«
Wir küssen uns mit aller Leidenschaft.
Hand in Hand verlassen wir das Labyrinth.
Dramatis Personae
Die mit einem * gekennzeichneten Personen sind historisch.
Alessandra d’Ascoli
(Alessandra Colonna) Humanistische Gelehrte und Vertraute von Papst Eugenius, Tochter von Fra Luca d’Ascoli und Adriana Colonna, Cousine von Papst Martin.
Arslan
(Djelal ad-Din Arslan) Tscherkessischer Königsmamelucke, Ziehsohn von Sultan Jaqmaq und Befehlshaber von Yareds Mameluckenleibwache.
Bedlay ibn Saad ad-Din*
(Sihab ad-Din Ahmed Badlay oder Arwe Bedlay, ›das Biest‹) Sultan von Adal (1432 – 1445).
Benyamin
(Benyamin ben Yoel Halevi) Yareds Sekretär und Freund, Bruder von Yareds Gemahlin Rebekka, Rabbi aus Sevilla.
Eleazar
Rabbi und Vorsteher der jüdischen Gemeinde, Vater von Yonatan und Aviram.
Elija
Gassenjunge aus Jerusalem.
Eugenius IV .*
Gabriel Condulmer (1383 – 1447), römischer Pontifex (1431 –1447).
Abuna Gabriel* und Abuna Mikael*
Patriarchen von Äthiopien (gleichzeitig), ernannt 1438 durch den koptischen Papst Yoannis al-Maksi.
Gebre Christos*
(›Diener Christi‹) Abt des äthiopischen Klosters in der Grabeskirche. 1441 – 1443 Reise zum Unionskonzil in Florenz.
Ghiorghi
(Imad ad-Din Ghiorghi) Mamelucke aus Georgien, Alessandras Leibwächter.
Fra Girolamo da Salerno
Franziskanermönch in
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