Der groesste Teil der Welt
seinem Vater weg. Er kann nirgends hin, deshalb springt er ins Wasser und paddelt langsam zurück zum Ufer. Die Sonne steht tief, das Wasser ist aufgewühlt und voller Schatten. Rolph stellt sich vor, dass unter seinen Füßen Haie sind, aber er dreht sich nicht um und schaut nicht zurück. Er schwimmt immer weiter auf den weißen Sand zu und weiß instinktiv, dass sein Kampf darum, sich oben zu halten, die ausgefeilteste Folter ist, die er für seinen Vater ersinnen kann - und dass Lou sofort ins Wasser springen und ihn retten wird, wenn er untergeht.
An diesem Abend dürfen Rolph und Charlie zum Abendessen Wein trinken. Rolph mag den sauren Geschmack nicht, aber ihm gefällt, wie seine Umgebung verschwimmt; die riesigen schnabelartigen Blumen im ganzen Saal, die von seinem Vater erlegten Fische, die der Koch mit Oliven und Tomaten zubereitet hat; Mindy in einem schimmernden grünen Kleid. Sein Vater hat den Arm um sie gelegt. Er ist nicht mehr wütend, also muss Rolph es auch nicht mehr sein.
Lou hat die letzte Stunde im Bett verbracht und Mindy bis zur Besinnungslosigkeit gevögelt. Jetzt behält er eine Hand auf ihrem schmalen Oberschenkel liegen. Er greift ihr unter den Rocksaum und wartet auf den verschleierten Blick, den sie dann bekommt. Lou ist ein Mann, der eine Niederlage nicht hinnehmen kann - er kann sie nur als einen Schritt zu seinem eigenen unvermeidlichen Sieg auffassen. Er muss gewinnen. Albert ist ihm scheißegal - Albert ist unsichtbar, Albert ist ein Nichts (und im Übrigen hat Albert die Gruppe verlassen und ist in seine Wohnung in Mombasa zurückgekehrt). Worauf es jetzt ankommt, ist, dass Mindy das auch begreift.
Er schenkt Mildred und Fiona nach, bis sie rote Flecken auf den Wangen bekommen. »Ihr habt mich noch immer nicht zum Vögelbeobachten mitgenommen«, zieht er sie auf. »Ich frage immer wieder, aber es passiert nie.«
»Wir könnten es morgen machen«, sagt Mildred. »Es gibt hier einige Wasservögel, die wir hoffentlich zu sehen bekommen.«
»Ist das ein Versprechen?«
»Ein feierliches Versprechen.«
»Komm mit«, flüstert Charlie Rolph zu. »Wir gehen raus.«
Sie schlüpfen aus dem überfüllten Speisesaal und laufen auf den silbrigen Strand hinaus. Das Klatschen der Palmen macht ein Regengeräusch, aber die Luft ist trocken.
»Es ist wie auf Hawaii«, sagt Rolph und wünscht, es wäre die Wahrheit. Die Zutaten sind vorhanden: die Dunkelheit, der Strand, seine Schwester. Aber es ist nicht dasselbe.
»Nur ohne den Regen«, sagt Charlie.
»Nur ohne Mom«, sagt Rolph.
»Ich glaube, er wird Mindy heiraten«, sagt Charlie.
»Nie im Leben! Du hast doch gesagt, dass er sie nicht liebt.«
»Na und? Er kann sie doch trotzdem heiraten.«
Sie lassen sich auf den Sand sinken, der noch ein wenig warm ist und das Leuchten des Mondes reflektiert. Das Geistermeer wirft sich dagegen.
»So schlimm ist sie auch wieder nicht«, sagt Charlie.
»Ich mag sie nicht. Und wieso bist du hier plötzlich die Expertin?«
Charlie zuckt mit den Schultern. »Ich kenne Dad.«
Charlie kennt sich selber nicht. In vier Jahren, mit achtzehn, wird sie sich jenseits der mexikanischen Grenze einer Kultgemeinschaft anschließen, deren charismatischer Führer eine Diät aus rohen Eiern propagiert; sie wird beinahe an einer Salmonellenvergiftung sterben, ehe Lou sie rettet. Die Gewohnheit, Kokain zu schnupfen, erfordert später eine partielle Rekonstruktion ihrer Nase, was ihr Aussehen beeinträchtigt, und eine Serie von rücksichtslosen, dominierenden Männern lässt sie mit Ende zwanzig völlig vereinsamen bei dem Versuch, zwischen Rolph und Lou zu vermitteln, die da schon nicht mehr miteinander reden.
Aber ihren Vater kennt Charlie. Er wird Mindy heiraten, weil das zum Gewinnen eben gehört und weil Mindys Drang, diese seltsame Episode zu beenden und an die Uni zurückzukehren, nur bis zu dem Moment vorhalten wird, wo sie die Tür zu ihrer Wohnung in Berkeley öffnet und in den Geruch von köchelnden Linsen hineingeht, einer jener billigen Eintöpfe, von denen sie und ihre Mitbewohnerinnen sich ernähren. Sie wird sich auf eine durchgesessene Couch, die sie auf der Straße gefunden haben, fallen lassen und beim Auspacken ihrer vielen Bücher feststellen, dass sie in den Wochen, in denen sie sie durch Afrika geschleppt hat, so gut wie nichts gelesen hat. Und beim Klingeln des Telefons wird ihr Herz einen Sprung machen.
Strukturelle Unzufriedenheit: Rückkehr in die Umstände, die einem früher
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