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Der groesste Teil der Welt

Der groesste Teil der Welt

Titel: Der groesste Teil der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Egan
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gesamte Macht mir, der Schreibtisch, die Aussicht, der Stuhl, auf dem man sich fühlte, als könnte man fliegen. Bennie spürte es auch. So ist es eben mit der Macht, jeder spürt sie sofort.
    Ich drehte mich um und ging auf die Tür zu, ich grinste noch immer. Ich fühlte mich leicht, als trüge ich Bennies weißes Hemd und würde von innen heraus leuchten.
    »Hey, Scotty, warte«, sagte Bennie, er klang erschüttert. Er drehte sich wieder zu seinem Schreibtisch, aber ich ging weiter, mein Grinsen führte mich über den Gang und zurück in den Eingangsbereich, wo Sasha saß, und meine Schuhe flüsterten bei jedem langsamen, würdevollen Schritt auf dem Teppich. Bennie holte mich ein und reichte mir eine Visitenkarte: teures Papier mit geprägter Schrift. Sie fühlte sich wertvoll an. »Präsident«, las ich.
    »Lass mal wieder von dir hören, Scotty«, sagte Bennie. Er hörte sich verwirrt an, als habe er vergessen, wie ich hergekommen war, als habe er mich selbst eingeladen und ich bräche unerwartet früh auf. »Wenn du je irgendwelche Musik hast, die ich mir anhören soll, dann schick sie.«
    Ich konnte mir einen letzten Blick auf Sasha nicht verkneifen. Ihre Augen waren ernst, fast schon traurig, aber sie hielt noch immer ihr hübsches Lächeln aufrecht. »Passen Sie auf sich auf, Scotty«, sagte sie.
    Unten vor dem Gebäude ging ich direkt zu dem Briefkasten, in den ich einige Tage zuvor meinen Brief an Bennie eingeworfen hatte. Ich legte den Kopf in den Nacken, schaute mit zusammengekniffenen Augen an dem Turm aus grünem Glas hoch und versuchte, die Stockwerke bis fünfundvierzig zu zählen. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Hände leer waren - ich hatte meinen Fisch in Bennies Büro vergessen. Das kam mir irrsinnig komisch vor, ich lachte laut los und stellte mir vor, wie die zwei in ihren Anzügen sich auf die Stühle vor Bennies Schreibtisch setzten, einer von ihnen das feuchte, schwere Paket vom Boden hochhob und erkannte - O Gott, es ist der Fisch von diesem Typen! - und es angeekelt fallen ließ. Und was würde Bennie tun?, fragte ich mich, während ich langsam zur U-Bahn ging, würde er den Fisch sofort entsorgen oder würde er ihn in den Bürokühlschrank legen und abends seiner Frau und seinem kleinen Sohn mit nach Hause nehmen und ihnen von meinem Besuch erzählen? Und falls er das machte, würde er das Zeitungspapier aufmachen und sich den Fisch ansehen, einfach aus Spaß?
    Ich hoffte es. Ich wusste, er würde staunen. Es war ein leuchtender, schöner Fisch.
    Für den Rest dieses Tages war nicht viel mit mir anzufangen. Ich habe oft Kopfschmerzen wegen einer Augenverletzung, die ich mir als Kind zugezogen habe, und der Schmerz ist so stark, dass er grelle, quälende Bilder hervorruft. An diesem Nachmittag legte ich mich auf mein Bett, schloss die Augen und sah ein brennendes Herz in der Dunkelheit, das in alle Richtungen Lichtstrahlen sandte. Es war kein Traum, da nichts weiter passierte. Das Herz war einfach nur da.
     
    Da ich mich am späten Nachmittag hingelegt hatte, stand ich schon vor Sonnenaufgang mit meiner Angel unter der Williamsburg-Brücke. Sammy und Dave trudelten bald danach ein. Dave machte sich eigentlich nichts aus Fischen - er kam, um die Frauen aus dem East Village beim frühmorgendlichen Joggen zu beobachten, ehe sie zur nyu oder zur Arbeit in einer Boutique gingen, oder was Mädchen aus dem East Village mit ihrer Zeit so anfangen. Dave beschwerte sich über ihre Sport-BHs, die für seinen Geschmack nicht genug Bewegung zuließen. Sammy und ich hörten kaum hin.
    Als Dave an diesem Morgen wie üblich davon anfing, fühlte ich mich veranlasst zu reagieren. »Weißt du, Dave«, sagte ich. »Ich glaube, das ist der Sinn der Sache.«
    »Was ist der Sinn der Sache?«
    »Dass ihre Brüste sich nicht bewegen«, sagte ich. »Das tut ihnen weh. Deshalb tragen sie ja überhaupt Sport-BHs.«
    Er schaute mich misstrauisch an. »Seit wann bist du denn hier der Experte?«
    »Meine Frau ist gejoggt«, sage ich.
    »Ist gejoggt? Heißt das, sie hat damit aufgehört?«
    »Sie hat aufgehört, meine Frau zu sein. Vermutlich joggt sie noch immer.«
    Es war ein ruhiger Morgen. Ich hörte das langsame Ploppen von Tennisbällen auf den Plätzen hinter der Williamsburg-Brücke. Abgesehen von Joggern und Tennisspielern waren frühmorgens normalerweise nur ein paar Junkies unten am Fluss. Ich hielt immer Ausschau nach einem bestimmten Paar, einem Mann und einer Frau in hüftlangen Lederjacken mit

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