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0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick

0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick

Titel: 0742 - Der Junge mit dem Jenseitsblick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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In der Halle war es kühl. Durch die offenen Türen zum Vorplatz hin pfiff der Wind. Er spielte mit altem Papier und Zigarettenkippen, rollte sie in Strudel hinein und schleuderte sie in langen Bahnen in die Halle. Die alte Frau kümmerte sich nicht darum. Sie ging weiter, hatte den Rücken vornübergebeugt, als würde sie unter einer besonderen Bürde des Schicksals leiden.
    Der Bahnhof war auch ihr Schicksal. Der Sturm des Lebens hatte sie hier schließlich stranden lassen. Sie fristete ein erbärmliches Dasein mitten in Deutschland. Und wenn sie an die vergangenen Zeiten dachte, wo es ihr besser ergangen war, konnte sie nur noch weinen.
    Um diese Zeit - etwa dreißig Minuten vor Mitternacht - war die Halle des Kölner Hauptbahnhofs ziemlich leer. Der große Betrieb war vorbei, und die Leere gestattete der Bettlerin einen guten Überblick.
    Zwischen dem Blumenstand und einem Taschenbuchladen blieb sie stehen. Rechts vor ihr lag der Ausgang. Der Schatten des Doms wuchs in die Höhe des Nachthimmels hinein, als wollte er den Bahnhof vor Gefahren beschützen.
    Wenige Reisende trafen ein. Sie würden die Nachtzüge nehmen, die um die Tageswende herum abfuhren.
    Aber es gab auch genügend Menschen, die zu Cornelia gehörten. Gestrandete wie sie. Männer und Frauen ohne Hoffnung, denen der Bahnhof als letzte Zuflucht geblieben war.
    In dieser Nacht spürte sie die Kälte sehr deutlich. Es lag nicht allein an dem kalten Märzwetter, es war auch etwas anderes. Das Wissen nämlich um den Tod, der sich bereits in der Nähe befand.
    Die Frau spürte es.
    Sie zitterte, sie wischte über ihre Stirn. Zwei Männer sprachen sie an und fragten, was sie hätte.
    »Geht weiter.«
    »Warum?«
    »Laßt mich allein.«
    Die Männer verschwanden. Sie stammten selbst aus dem Milieu und wußten, wann ein Mensch allein bleiben wollte. Sie bewegte sich auf eine Anzeigetafel zu und blieb daneben stehen.
    Ich muß sie finden. Ich muß es einfach. Nur so kann ich das Unheil abwenden…
    Es war nichts zu sehen.
    Ein völlig normaler Betrieb in einer ebenfalls völlig normalen Nacht auf dem Kölner Hauptbahnhof.
    Die alte Frau stöhnte auf. Immer wieder rann das Prickeln über ihren Rücken. Die Furcht, daß sie zu spät kommen würde, verstärkte sich zusehends. Reisende betraten den Bahnhof. Eine Gruppe von Kindern wurde von zwei erwachsenen Begleitpersonen geführt. Um die Hälse der Kinder hingen Bänder mit den entsprechenden ID-Cards.
    Im Hauptdurchgang, der zu den Bahnsteigen führte, sah die Frau die beiden Bahnpolizisten heranschlendern. Die Polizei war hier allgegenwärtig, Was auch so sein mußte, denn oft genug kam es zu Auseinandersetzungen, wenn irgend jemand durchdrehte oder andere Dinge zu regeln waren. Die Männer halfen, wo sie konnten, sorgten für alte Menschen und auch für ganz junge. Sie brachten Kinder zu ihren Eltern zurück oder besorgten jugendlichen Trampern Unterkünfte für die Nacht.
    Die Bettlerin schaute ihnen entgegen. Sie wollte den Kontakt mit ihnen. Hatten sie denn nichts gemerkt? Sie mußten doch wissen, daß der Tod den Bahnhof betreten hatte.
    Sie taten nichts, gaben sich völlig normal, lachten sogar, denn diese Nacht war besonders ruhig angelaufen. Es hatte keinerlei Aufregungen gegeben, keine Schlägereien, kaum Betrunkene, und auch die Reisenden verhielten sich ruhig.
    Sie trat ihnen in den Weg.
    Die beiden Polizisten blieben überrascht stehen. »He, was ist das denn? Du, Cornelia?«
    »Ja, ich.« Sie nickte.
    »Hast du was auf dem Herzen?«
    Sie schaute in ihre Gesichter und versuchte, darin zu lesen. Vielleicht ahnten sie etwas, was sie herausfinden konnte, aber das war nicht der Fall. Gleichgültig und dabei leicht amüsiert sahen sie die Stadtstreicherin an.
    »Rede doch.«
    Cornelia hob die Schultern. »Es tut mir leid, wirklich. Ich dachte, ihr hättet etwas gemerkt.«
    »Was denn gemerkt?«
    »Von der Gefahr!«
    Die jungen Beamten blieben cool. »Gefahr, sagst du? Welch eine Gefahr denn?«
    »Die sich hier festgesetzt hat.«
    Die Männer schauten sich an. »Das mußt du uns genauer erklären. Wir sehen keine Gefahr. Hast du irgendwelche Verbrecher entdeckt. Männer mit Bomben oder so…?«
    »Viel schlimmer«, flüsterte sie. »Viel schlimmer…«
    Einer von ihnen lachte. »Jetzt sag nicht, daß du wieder deine allseits bekannten Vorahnungen gehabt hast. Ist es über dich gekommen? Hast du etwa…?«
    »Ich habe tatsächlich.«
    »Wer ist es diesmal?«
    »Ich kann es euch nicht genau erklären.

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