Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
herausgearbeitet. Das ist die Schicht, in der Thukydides die Angst der Spartaner vor dem weiteren Aufstieg Athens als Hauptgrund für die Entstehung des Krieges verantwortlich gemacht hat. In dieser späteren Überarbeitung begreift Thukydides den Zusammenstoß zwischen Athen und Sparta aufgrund ihrer unterschiedlichen politisch-kulturellen Mentalitäten dann als unvermeidlich und unabwendbar, [1411] und damit wurde das, was zunächst als die Ursache des Krieges angesehen worden war – der Konflikt Athens mit Megara –, zum bloßen Anlass. Schwartz besaß das intellektuelle Format, am Beispiel des Thukydides und seines Geschichtswerks offenzulegen, unter welchen Bedingungen eine historische Analogie zur politischen Apologie wird und wie eine Kriegsursachenanalyse beschaffen sein muss, damit die Marginalisierung der unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges zur Exkulpierung der verantwortlichen Politiker werden kann. Das hat Schwartz freilich nicht daran gehindert, die spätere Sicht des Thukydides für die genauere und gründlichere zu halten: Auf den ersten Blick stach die expansive Politik Athens als Kriegsgrund ins Auge, aber bei genauerer Betrachtung zeigte sich, dass die Konkurrenten Athens der Stadt ihren Aufstieg missgönnten und darauf sannen, sie zu Fall zu bringen. Am Beispiel von Schwartz, in dessen Interpretation des thukydideischen Werks eine Auseinandersetzung mit dem Großen Krieg und seinen Hintergründen eingeschrieben ist, kann man sehen, dass es keine folgenlose Verwandlung von «Ursachen» in «Anlässe» gibt: Dahinter steht immer eine weitreichende Interpretation, die apologetische Absichten oder fatalistische Konsequenzen hat.
Die jugoslawischen Zerfallskriege nach 1991 jedoch waren eine deutliche Warnung vor dem Irrglauben, die Konstellationen, die in den Ersten Weltkrieg geführt hatten, seien überwunden und die Theorie des demokratischen Friedens sei der Schlüssel einer dauerhaften Friedensordnung in Europa. Dem kann nur folgen, wer bedingungslos der von Fritz Fischer vertretenen These anhängt, wonach der Erste Weltkrieg allein deshalb stattgefunden habe, weil ihn die politische und militärische Führung des Deutschen Reichs im Juli 1914 gewollt habe. [1412] Auf längere Sicht haben Fischers Thesen wie ein politischer Tranquilizer gewirkt, der gegenüber den fortbestehenden Konfliktfeldern in Europa unaufmerksam und schläfrig gemacht hat: Solange es in Europa kein Regime wie das Wilhelms oder Hitlers gab, musste man mit keinem weiteren Krieg rechnen. Die jugoslawischen Zerfallskriege haben das als irrig erwiesen – außer man hätte in dem serbischen Präsidenten Slobodan Milošević einen neuen Hitler sehen wollen, was einige ja auch tatsächlich getan haben. Damit aber ist nichts erklärt, sondern nur ein neuer politischer Glaube verteidigt worden. Auf diesem Wege wird es noch viele ‹Hitler› geben.
Für das politische Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland freilich haben Fischers Thesen zunächst eine wichtige Funktion gehabt: Wenn nämlich, wie Fischer erklärte, der Weg in den Ersten Weltkrieg keine Folge von Zufällen und Fehleinschätzungen war, sondern von der politisch-militärischen Elite zielstrebig verfolgt wurde, waren die Deutschen auch für ihre anschließende Geschichte verantwortlich. Sie konnten sich folglich nicht mehr damit herausreden, dass es, wenn man nicht zufällig in den Ersten Weltkrieg hineingeraten wäre, weder Hitler noch den Zweiten Weltkrieg gegeben hätte; auch der Hinweis auf Artikel 231 des Versailler Friedensvertrags, der Deutschland die alleinige Schuld am Krieg aufbürdete und ganz wesentlich zur Instabilität der Weimarer Republik und damit zum Aufstieg Hitlers beigetragen habe, lief dann ins Leere. Lloyd Georges Formel vom «Hineinschlittern» in den Krieg und die Vorstellung von der Kontingenz des Geschehens stützten in Deutschland dagegen die Idee, die Folgen von 1933 und 1945 ließen sich, zumindest auf der politischen Landkarte, wieder revidieren, weil man doch nicht wirklich «schuldhaft» auf diese Bahn geraten sei. Derartige Behauptungen und Ausreden waren erledigt, wenn Deutschland die Schuld am Ersten Weltkrieg trug. Die Heftigkeit, mit der Fritz Fischers Thesen diskutiert wurden, [1413] zeigt, dass den Zeitgenossen deren politische Brisanz bewusst war. Es ging dabei nicht bloß um eine historische Aussage von mehr oder weniger wissenschaftlicher Dignität; wenn Fischer recht hatte, dann musste man die geographische
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