Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
und Kontingenz zusammenkommen. Sobald die Vermutung auftaucht, der Zufall habe seine Hand im Spiel gehabt, sind wir bemüht, das Ereignis auf das Niveau eines Geschehnisses herabzustufen. Das beruhigt uns. Wir haben dann wieder ein größeres Vertrauen in den Gang der Dinge. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob der Mord von Sarajewo als ein Ereignis oder bloß als ein Geschehnis zu begreifen ist. Die Semantik seiner Herabstufung ist um den Begriff ‹Anlass› herum aufgestellt. Sobald der Mord in einen Anlass verwandelt worden ist, sind wir beruhigt: Es hätte ohnehin so kommen müssen, wie es gekommen ist, selbst wenn es keine Verkettung von Zufällen gegeben hätte.
Auch die Unterscheidung zwischen Anlass und Ursache geht auf Thukydides zurück, der in seiner Darstellung des Peloponnesischen Krieges betont hat, nicht der von dem führenden Athener Politiker Perikles durchgesetzte Sanktionsbeschluss gegen das Städtchen Megara, sondern der unaufhaltsame Aufstieg Athens im Frieden sei der entscheidende Grund für die Kriegsdrohungen der Korinther und Spartaner gewesen. [1410] Athen stand im Begriff, seine Konkurrenten zu überflügeln und seine Hegemonie auf ganz Griechenland auszudehnen. Die Gegner Athens suchten den Krieg, weil sie nur so dessen weiteren Aufstieg blockieren zu können glaubten. Unter diesen Umständen setzte Perikles darauf, den, wie er meinte, ohnehin
unvermeidlichen
Krieg
jetzt
zu führen und die Entscheidung zu einem Zeitpunkt zu suchen, da die Konstellationen für Athen günstig waren. Der Anlass zum Krieg mag der Streit mit Megara gewesen sein, aber der Kriegsgrund waren nach Thukydides Neid und Missgunst der Konkurrenten Athens, die sich auf dem absteigenden Ast befanden.
Der Verweis auf die Kriegsursachenanalyse des Thukydides ist vor allem von deutschen Historikern ins Spiel gebracht worden, und dabei haben sie das Deutsche Reich in der Position Athens gesehen, das von Neidern (Briten) und Feinden (Franzosen und Russen) umgeben gewesen sei. Auf den ersten Blick war das keine unplausible Analogie, hatte Deutschland von allen europäischen Großmächten doch am meisten vom Frieden der zurückliegenden Jahrzehnte profitiert. Es war im Frieden immer stärker und mächtiger geworden, und es gab gute Gründe für die Annahme, das angebrochene 20 . Jahrhundert könne ein ‹deutsches Jahrhundert› werden. Aber man fühlte sich von Missgunst und Feindseligkeit umringt und fürchtete, die Gegner würden dieser Entwicklung mit Gewalt ein Ende setzen wollen, weswegen in Deutschland einige ihrerseits den Krieg suchten – und zwar zu einem Zeitpunkt, der von den politischen Rahmenbedingungen her günstig erschien und bei dem die Aussichten auf einen militärischen Erfolg gut waren. In der Analogie von Peloponnesischem Krieg und Erstem Weltkrieg wird zugestanden, dass die deutsche Politik das Attentat von Sarajewo benutzt hat, um einen Konflikt zu eskalieren, in dem der Ring der Einkreisungsmächte politisch aufgesprengt oder militärisch zerschlagen werden sollte. Durch die Applikation der thukydideischen Unterscheidung von Anlass und Ursache war dies ein Präventivkrieg im Sinne eines von den Gegnern aufgezwungenen Waffengangs, bei dem der Bedrängte den Zeitpunkt des Krieges bestimmte und so das Heft des Handelns in die Hand bekam. Damit wurde die Analogie zur Apologie: Nicht die Deutschen, sondern deren Feinde waren die eigentlich Schuldigen dieses Krieges. Nur politisch Kurzsichtige, die nichts anderes vor Augen hatten als die kurzen Wege in den Krieg, konnten glauben, dass dem Deutschen Reich die Hauptkriegsschuld zukomme. Vor allem in Kreisen des (historisch) gebildeten Bürgertums war diese Unterscheidung zwischen Anlass und Ursache bis in die frühe Bundesrepublik hinein verbreitet.
Ein Protagonist der Analogiebildung zwischen Peloponnesischem Krieg und Weltkrieg war der Althistoriker Eduard Schwartz. In seiner Analyse des thukydideischen Geschichtswerks hat Schwartz zwei Schichten herausgearbeitet: In einer ersten Schicht habe Thukydides eine rücksichtslos expansive Politik Athens dargestellt, deren oberstes Ziel es gewesen sei, wirtschaftliche Prosperität in politische Macht umzusetzen und sich aus dem Hegemon des Seebundes in den Oberherrn des ägäischen Raumes zu verwandeln; in einer zweiten Schicht, Ergebnis einer späteren Überarbeitung, habe Thukydides vor allem den Kriegswillen der jüngeren Politiker Spartas und die Kriegstreiberei der Korinther als kriegsursächlich
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