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Der gruene Heinrich [Erste Fassung]

Der gruene Heinrich [Erste Fassung]

Titel: Der gruene Heinrich [Erste Fassung] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gottfried Keller
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schlossen die Laden und setzten uns an den Tisch und lasen zusammen. Ich hatte ihr im Herbst auf ihr Verlangen nach einem Buche eine deutsche Übersetzung des Rasenden Roland zurückgelassen, welchen ich selbst noch nicht näher kannte; Judith hatte aber den Winter über oft darin gelesen und pries mir jetzt das Buch als das allerschönste in der Welt an. Judith zweifelte nicht mehr an Annas baldigem Tod und sagte mir dies unverhohlen, obgleich ich es nicht zugeben wollte; durch diesen Gegenstand und meine Berichte von jenem Krankenlager wurden wir trübselig und düster, jedes auf seine Weise, und wenn wir nun im Ariost lasen, so vergaßen wir alle Trübsal und tauchten uns in eine frische glänzende Welt. Judith hatte das Buch erst ganz volkstümlich als etwas Gedrucktes genommen, wie es war, ohne über seinen Ursprung und seine Bedeutung zu grübeln; als wir aber jetzt zusammen darin lasen, verlangte sie manches zu wissen, und ich mußte ihr, so gut ich konnte, einen Begriff geben von der Entstehungsweise und der Geltung eines solchen Werkes, von dem Wollen und den bewußten Absichten des Dichters, und ich erzählte, soviel ich wußte, von Ariost. Nun wurde sie erst recht fröhlich, nannte ihn einen klugen und weisen Mann und las die Gesänge mit verdoppelter Lust, da sie wußte, daß diesen so heiteren und so tiefsinnigen Wechselgeschichten eine helle und tiefgefühlte Absicht zugrunde lag, ein Wollen, Schaffen und Gestalten, eine Einsicht und ein Wissen, das ihr in seiner Neuheit wie ein Stern aus dunkler Nacht erglänzte. Wenn die in Schönheit leuchtenden Geschöpfe rastlos an uns vorüberzogen, von Täuschung zu Täuschung, und, leidenschaftlich sich jagend und haschend, immer eins dem andern entschwand und ein drittes hervortrat, oder wenn sie in kurzen Augenblicken bestraft und trauernd ruheten von ihrer Leidenschaft oder vielmehr sich tiefer in dieselbe hineinzuruhen schienen an klaren Gewässern, unter wundervollen Bäumen, so rief Judith »O kluger Mann! Ja, so geht es zu, so sind die Menschen und ihr Leben, so sind wir selbst, wir Narren!«
    Noch mehr glaubte ich selbst der Gegenstand eines poetischen Scherzes zu sein, wenn ich mich neben einem Weibe sah, welches ganz wie jene Fabelwesen auf der Stufe der voll entfalteten Kraft und Schönheit stillzustehen und dazu angetan schien, unablässig die Leidenschaft fahrender Helden zu erregen. An ihrer ganzen Gestalt hatte jeder Zug ein siegreiches festes Gepräge, und die Faltenlagen ihrer einfachen Kleider waren immer so schmuck und stattlich, daß man durch sie hindurch in der Aufregung wohl goldene Spangen oder gar schimmernde Waffenstücke zu ahnen glaubte.
    Entblößte jedoch das üppige Gedicht seine Frauen von Schmuck und Kleidung und brachte ihre bloßgegebene Schönheit in offene Bedrängnis oder in eine mutwillig verführerische Lage, während ich mich nur durch einen dünnen Faden von der blühendsten Wirklichkeit geschieden sah, so war es mir vollends, als wäre ich ein törichter Fabelheld und das Spielzeug eines ausgelassenen Dichters; nicht nur das platonische Pflicht-und Treuegefühl gegen das von christlichen Gebeten umgebene Leidensbett eines zarten Wesens, sondern auch die Furcht, schlechtweg durch Annas krankhafte Träume verraten zu werden, legten ein Band um die verlangenden Sinne, während Judith aus Rücksicht für Anna und mich und aus dem Bedürfnisse sich beherrschte, in dem zierlich platonischen Wesen der lugend noch etwas mitzuleben. Unsere Hände bewegten sich manchmal unwillkürlich nach den Schultern oder den Hüften des andern, um sich darumzulegen, tappten aber auf halbem Wege in der Luft und endigten mit einem zaghaften abgebrochenen Wangenstreicheln, so daß wir närrischerweise zwei jungen Katzen glichen, welche mit den Pfötchen nacheinander auslangen, elektrisch zitternd und unschlüssig, ob sie spielen oder sich zerzausen sollen.
    In solchen Augenblicken rafften wir uns auf; Judith zog ihre Schuhe an und begleitete mich in die Sommernacht hinaus; es reizte uns, ungesehen ins Freie zu gelangen und auf nächtliche Abenteuer durch den Wald und über die Höhen zu gehen. Solche romantische Gewohnheiten vergnügten meine Begleiterin um so mehr, als sie ihr neu waren und sie noch nie ohne einen bestimmten und außerordentlichen Zweck nächtlicherweise aus dem Dorfe gegangen war. Sie freuete sich aber dieser Freiheit um ihrer selbst willen und nicht aus Naturschwärmerei, weil sie einmal ein abgesondertes und eigenes Leben

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