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Finne dich selbst!

Finne dich selbst!

Titel: Finne dich selbst! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Gieseking
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Finnland oder Bali
    Es war ein Sonntag im März. Nicht wichtig eigentlich, aber trotzdem im Nachhinein entscheidend. Meine Eltern standen vor mir und sagten: »Wi führt düssen Sommer noh Finnland.« Wir fahren diesen Sommer nach Finnland. Die beiden reden meistens plattdeutsch, »Platt«, wie wir in Ostwestfalen sagen. Nach Finnland also. »Wi wellt Axel beseuken.« Wir wollen Axel besuchen. Axel. Mein kleiner Bruder, aber längst erwachsen. Ausgewandert nach Finnland. Natürlich wegen einer Frau. Nun lebt er in Lahti. Mit ihr. Mit Viivi. Das kann man machen.
    Ich sehe meine Eltern nicht oft. Sie leben in Minden, ich inzwischen in Dortmund. Näher dran als vorher, aber doch weit genug weg. Ich mag meine Eltern – solange die Distanz stimmt. Seit vielen Jahren besuche ich sie immer nur für ein paar Stunden, und diese Zeit schaffen wir in der Regel problemlos miteinander. Ich übernachte auch nicht mehr bei ihnen, sondern nehme mir lieber ein Hotelzimmer, damit die Distanz stimmt, um genügend, aber nicht zu viel Nähe haben zu können. Sonst erstreiten wir uns schnell den nötigen Abstand. Inzwischen haben wir viel Spaß miteinander, aber wir können uns ohne Probleme, von einer seit Kindheit und Pubertät antrainierten, spontanen Konfliktfähigkeit getragen, innerhalb von Sekunden »in die Wolle kriegen«. Nach den frühen »Kriegsjahren« bin ich heute mit beiden eng befreundet. Sie sind witzig-herzliche Ostwestfalen, die aus meinem Bruder und mir die Menschen machten, die wir heute sind. Alles ist gut. Es sei denn, wir treffen zu lang aufeinander, Eltern und Söhne, Mutter, Vater, Bruder und ich.
    Jetzt wollten meine Eltern also nach Finnland fahren. Hermann und Ilse. Ich war überrascht von dieser Reise-Ankündigung. Wie wollten sie das denn bewerkstelligen? Meine Eltern sind körperlich durchaus gehandicapt. Hermann war dem Teufel, »dän Düvel«, wie man bei uns in Ostwestfalen sagt, in seinem Leben bereits mehrfach von der Schippe gesprungen, nun hatte man ihm geraten, nur noch im deutschsprachigen Ausland Urlaub zu machen. Mit »unser« Mutter, mit Ilse, ist es auch nicht viel besser. Regelmäßig unregelmäßig überkommen sie Schwindel, Übelkeiten und Hörstürze. Die führen zu Fahrradstürzen oder von Treppen herunter, aber all das hindert sie nicht, mit alter Heftigkeit, Hektik und Unnachgiebigkeit die Chefin der Kompanie zu geben. Meine Mutter erzieht gerne und bis heute. Ihr größter Fall ist übrigens mein Vater.
     
    Meine Eltern standen also vor mir, im Garten in Minden-Kutenhausen, meinem Heimatdorf, vom kahlen Apfelbaum überschattet. Raureif lag auf dem Feld. Wir beobachteten ein Fasanenpaar, das sich über den Acker langsam zu uns herüber pickte.
    Die Fasane pickten, meine Eltern stritten. Das waren sonst normale, schöne, gleichförmige Tage im Jahresrund. Aber nun diese Ankündigung: »Wir fahren diesen Sommer nach Finnland.«
    Ich fragte: »Wie wollt ihr das denn machen? Ihr könnt doch nicht fliegen mit euren Malessen.«
    Malessen sind Krankheiten, die von kleinen Blessuren bis hin zu schweren Infarkten reichen können. Der Ostwestfale erträgt das stoisch und redet nicht lang darüber. Er redet ohnehin nicht sehr viel.
    Beide im Chor: »Wir fahren mit dem Auto.«
    Ich starrte sie an. »Aber ihr könnt doch, so kaputt wie ihr seid, nicht mit dem Auto alleine bis nach Finnland fahren!«
    Beide: »Worümme? Hier führ wi doch ok!« Wieso? Hier fahren wir doch auch!
    Ich hatte einen Sommerurlaub geplant und mich noch nicht endgültig zwischen Bali und Neuseeland entschieden. Ich wollte in die Fremde. Am liebsten zu den exotischen Reisfeldern, den unerklärlichen, aber poetischen Opferritualen an die Götter, wenn wunderschön gekleidete Balinesinnen Reis, Blüten und Räucherstäbchen verteilen, mit Wasser besprenkeln und heilige Verse hauchen. Ich wollte in diese Fülle von Vegetation, wollte zu Palmen, die sich unter dem Gewicht der Kokosnüsse bogen, zu Kaffeepflanzen und Kakaobäumen.
    Das letzte Mal mit meinen Eltern gemeinsam verreist war ich mit 15  Jahren. An die Nordsee. Neuharlingersiel. In meinem Kopf liefen seltsam zusammengestellte Diaprojektionen über- und ineinander. Windumtoste Nordseedeiche. Klack. Balinesischer Strand. Klack. Grüne Reisfelder. Klack. Die Nordsee bei Ebbe. Klack. Grauer Schlick. Klack. Finnland. Klack. Endlose Kiefernwälder. Klack. Farbenfrohe Hindu-Tempel. Klack. Ich sah von oben auf mich selber herab beim Schnorcheln. Klack. Finnland, grell

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