Der gruene Heinrich [Erste Fassung]
Christentum vorzüglich sich angeeignet und zu einer ausgebildeten Kultur erhoben hat, ist eine löbliche Eigenschaft des ursprünglichen Menschen, und das Christentum hat sie weder vom Himmel geholt noch sonst erfunden, sondern fertig im Vermögen des Menschen vorgefunden, und sie ist so gut weltlicher Natur, daß nicht nur kluge und edle Heiden sie besessen, sondern auch am kranken und leidenden Tiere täglich zu sehen ist, und zwar nicht zum Zeugnis ihrer Niedrigkeit, sondern ihrer maßgeblichen Ursprünglichkeit und Natürlichkeit. Freilich ist das Dulden der meisten Christen längst nicht mehr dieser edle und kraftvolle Grundzug, sondern ein künstliches Wesen, welches darauf hinausläuft, so bald als möglich nicht mehr dulden zu wollen und für das Erduldete hinlänglich entschädigt zu werden, daher auch die gedankenlosen und lärmenden Gegner des Christentums das Kind mit dem Bade ausschütten, alles Leiden entweder für Heuchelei und Beschränktheit oder für Feigheit halten und sich gebärden wie eigensinnige kreischende Kinder, die keine Suppe essen wollen.
Obgleich Heinrich das Unglück um seiner selbst willen ertrug als eine ins Leben getretene, sehr deutlich gestaltete Sache, die um ihrer Klarheit willen zu einem Gute wurde, so verfiel er doch täglich immer wieder der christlichen Weise, Gott um unmittelbare Hilfe zu bitten in allen möglichen Tonarten, und zwar nicht seinetwegen, sondern um seiner Mutter willen, da deren Ruhe und Wohlfahrt jetzt von seinem eigenen Befinden abhing. Seit ihr letztes Opfer einen so plötzlichen schlechten Erfolg gehabt, war es ihm nicht möglich gewesen, ihr wieder zu schreiben, da er ihr nichts Gutes berichten konnte und sie doch nicht anlügen mochte. Von Woche zu Woche eine günstigere Wendung verhoffend, verschob er das Schreiben, bis eine so lange Zeit verstrichen war und sich ein trauriges Schweigen so in ihm festgesetzt hatte, daß er dieses nun nicht mehr brechen zu können meinte als zugleich mit den wohlgefälligsten Nachrichten und am besten mit einer glücklich bestellten Rückkehr. Die Mutter hatte ihm noch einigemal geschrieben und die Hoffnung seiner baldigen Heimkehr jedesmal mit der Todesanzeige eines Verwandten, Freundes oder Nachbarn geschlossen, so erst mit derjenigen des Schulmeisters, des Oheims, dann mit derjenigen alter Leute sowohl wie junger kräftiger Menschen aus Dorf und Stadt, und zahlreiche Familienereignisse und Veränderungen, Entfremdung alter Verhältnisse, Untergang manches bekannten Wohlergehens und Daseins und die Begründung gänzlich neuer verkündeten vollends dem fernen Sohne die unerbittliche Flucht der Zeit und ließen ihn die Vereinsamung seiner Mutter und den Wert eines jeden Tages doppelt fühlen. Als sie aber keine Antwort mehr erhielt, schwieg sie endlich still, und nun sprach diese Stille beredter als alle Briefe in Heinrichs Seele, welcher sich doch nicht rühren noch regen konnte.
So kam es, daß er, während er für seine Person sich schuldlos fühlte und die Dinge nicht fürchtete, in Ansehung seiner Mutter eine große Schuld erwachsen sah, an der er doch wieder nicht schuld zu sein meinte, und daher wußte er in diesem Doppelzustande keinen andern Ausweg, als Gott zu bitten, seine Mutter vor Kummer und Leid zu schützen. Daß er bei diesem Schütze selber gut wegkam, darüber gab er sich vollkommen Rechenschaft und suchte sich zu überzeugen, daß dennoch sein Gebet uneigennützig und es ihm durchaus nicht um sich selbst zu tun sei; dann mußte er sich aber wieder sagen, daß seine Mutter ohne Zweifel zu Hause in der nämlichen Weise Gott für ihr Kind und nicht für sich selbst bitte, und da doch alles beim alten blieb und Gott in der Mitte der sich kreuzenden flehentlichen Bitten sich ganz still verhielt, so vermehrten starke Zweifel an der Vernünftigkeit dieses ganzen Wesens sein Leid und sein Schuldbewußtsein. Denn wenn er sich bemühte, um sich das Verhalten eines wirklich vorsehenden und eingreifenden Gottes glaubwürdig und begreiflich zu machen, an der Mutter selbst eine Art Schuld aufzufinden, welche eine solche Leidensschule verursacht, so konnte er keine finden, und diese ganze Untersuchung dünkte ihn lästerlich und unkindlich; oder wenn er endlich, etwa dachte, daß vielleicht gerade das ängstliche Wesen der Mutter in irdischen Dingen, der große Wert, den sie auf ein sicheres Auskommen und auf eine herbe Sparsamkeit legte, ihr Vergehen sei, welches eine weise Schule Gottes hervorgerufen, so
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