Der gruene Heinrich [Zweite Fassung]
eine große Schaar dem Leichlein nachgelauffen und hat es verfolget und hintendrein ist noch der Schulmeister mit dem Bakel gesprungen. Es hat aber immer ein zwanzig Schritt Vorsprung gehabt und nicht eher Halt gemacht, als bis es auf dem Buchenloo angekommen und leblos umgefallen ist, worauf die Kinder um dasselbige herumgekrabbelt und es vergeblich, gestreichelt und caressiret haben. Dieses Alles haben wir nach der Hand erfahren, weill wir mit großer Noth in das Pfarrhaus uns salviret und in tiefer Desolation verharret sind, bis man das Leichlein wiederum gebracht hat. Man hat es auf ein Matraz gelegt und ist die Herrschaft darauf verreiset mit Hinterlassung einer kleinen Steintafell, worein Nichts als das Familienwappen und Jahrzahl gehauen ist. Nunmehr liegt das Kind wieder für todt und getrauen wir uns nicht, zu Bett zu gehen aus Furcht.
Der Medicus sitzet aber bey ihm und meint nun, es sey endlich zur Ruh gekommen.«
»Heute hat der Medicus nach unterschiedlichen Experimenten erklärt, daß das Kind wirklich todt seye, und ist es nun in der Stille beigesetzt worden und nichts Weiteres arriviret usf.«
Sechstes Kapitel
Weiteres vom lieben Gott. Frau Margret und ihre Leute Ich kann nicht sagen, daß, nachdem Gott einmal die bestimmte und nüchterne Gestalt eines Ernährers und Aushelfers für mich gewonnen hatte, er mein Herz in jenem Alter mit zarteren Empfindungen oder tiefgehenden Gemütsfreuden erfüllte, zumal er aus dem glänzenden Gewande des Abendrotes sich verloren, um in viel späterer Zeit es wieder umzunehmen. Wenn meine Mutter von Gott und den heiligen Dingen sprach, so fuhr sie fort, vorzüglich im Alten Testamente zu verweilen, bei der Geschichte der Kinder Israel in der Wüste oder bei den Kornhändeln Josephs und seiner Brüder, bei der Witwe Ölkrug und dergleichen oder ausnahmsweise bei der Speisung der fünftausend Männer im Neuen Testamente. Alle diese Ereignisse gefielen ihr ausnehmend wohl, und sie trug mir dieselben mit warmer Beredsamkeit vor, während letztere mehr einem pflichtgemäß frommen Erzählen Raum gab, wenn das bewegte und blutige Drama von Christi Leidensgeschichte entwickelt wurde. Sosehr ich daher den lieben Gott respektierte und in allen Fällen bedachte, so blieben mir doch die Phantasie und das Gemüt leer, solange ich keine neue Nahrung schöpfte außer den bisherigen Erfahrungen; und wenn ich keine Veranlassung hatte, irgendeinen angelegentlichen Gebetvortrag abzufassen, so war mir Gott nachgerade eine farblose und langweilige Person, die mich zu allerlei Grübeleien und Sonderbarkeiten reizte, zumal ich sie bei meinem vielen Alleinsein doch nicht aus dem Sinne verlor. So gereichte es mir eine Zeitlang zu nicht geringer Qual, daß ich eine krankhafte Versuchung empfand, Gott derbe Spottnamen, selbst Schimpfworte anzuhängen, wie ich sie etwa auf der Straße gehört hatte. Mit einer Art behaglicher und mutwillig zutraulicher Stimmung begann immer diese Versuchung bis ich nach langem Kampfe nicht mehr widerstehen konnte und im vollen Bewußtsein der Blasphemie eines jener Worte hastig ausstieß, mit der unmittelbaren Versicherung, daß es nicht gelten solle, und mit der Bitte um Verzeihung; dann konnte ich nicht umhin, es noch einmal zu wiederholen, wie auch die reuevolle Genugtuung, und so fort, bis die seltsame Aufregung vorüber war. Vorzüglich vor dem Einschlafen pflegte mich diese Erscheinung zu quälen, obgleich sie nachher keine Unruhe oder Uneinigkeit in mir zurückließ. Ich habe später gedacht, daß es wohl ein unbewußtes Experiment mit der Allgegenwart Gottes gewesen sei, welche ebenfalls anfing, mich zu beschäftigen, und daß damals das dunkle Gefühl in mir lebendig geworden sei vor Gott könne keine Minute unseres inneren Lebens verborgen und wirklich strafbar sein, sofern er das lebendige Wesen für uns sei, für das wir ihn halten.
Indessen hatte ich eine Freundschaft geschlossen, welche meiner suchenden Phantasie zu Hilfe kam und mich von diesen unfruchtbaren Quälereien erlöste, indem sie, bei der Einfachheit und Nüchternheit meiner Mutter, für mich das wurde, was sonst sagenreiche Großmütter und Ammen für die stoffbedürftigen Kinder sind.
In dem Hause gegenüber befand sich eine offene dunkle Halle, ganz mit Trödelkram angefüllt. Die Wände waren mit alten Seidengewändern, gewirkten Stoffen und Teppichen aller Art behangen. Rostige Waffen und Gerätschaften, schwarze zerrissene Ölgemälde bekleideten die Eingangspfosten und
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